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So lassen wir uns beim Schmecken in die Irre leiten

Rot schmeckt süßer als gelb, gelb schmeckt süßer als grün und blau: Geschmack entsteht vor allem im Gehirn - und kaum auf der Zunge Rot schmeckt süßer als gelb, gelb schmeckt süßer als grün und blau: Geschmack entsteht vor allem im Gehirn - und kaum auf der Zunge
Rot schmeckt süßer als gelb, gelb schmeckt süßer als grün und blau: Geschmack entsteht vor allem im Gehirn - und kaum auf der Zunge
Quelle: dpa/Roland Weihrauch
Warum schmecken rote Gummibären süßer als grüne? Warum schmeckt Weißwein in blauer Umgebung besser? Und wieso empfinden Verliebte Saures stärker als Süßes? Das Klischee, wonach wir vor allem mit der Zunge schmecken, entlarvt die Wissenschaft mehr und mehr als Mythos. Neuigkeiten aus der Mundhöhle.

Wenn Sie in Bayern wohnen, und dort auch aufgewachsen sind, und einmal mit rollendem R das Wort Rhabarber sprechen, dann wissen Sie: Ihre Zunge hat sich nützlich gemacht. Für die Verständigung ist die Zunge unentbehrlich. Für das Essen, das Genießen, fürs Schmecken dagegen ist sie erstaunlich unwichtig.


Das Klischee, wonach es vor allem die Zunge ist, mit der wir schmecken, entlarvt die Wissenschaft mehr und mehr als eine dumme Volksweisheit. Sie ist es nicht: Nase und Augen, unsere Gene und sogar unser Lebensstil beeinflussen den Geschmack viel stärker als gedacht.


So führen französische Wissenschaftler der Universität Bordeaux professionellen Gourmets immer wieder gern die Grenzen ihrer Zunge vor: Sie setzen ihnen Weißwein vor, der mit roter Lebensmittelfarbe gefärbt ist. Neun von zehn Profis können ihn von gewöhnlichem Rotwein nicht unterscheiden.


Wie die Farbe den Geschmack verändert, bewiesen jetzt auch Forscher der Universität Mainz: Sie gaben 500 Probanden Weißwein zu trinken. Die Laien-Sommeliers sollten die Tropfen beurteilen und ihren Wert schätzen – und zwar bei wechselnder Raumbeleuchtung. Mal strahlten die Lampen rot, mal grün, mal blau, mal weiß. Die Farbe des Weins blieb von dem Lichtspiel unbeeinflusst, er wurde in schwarzen Gläsern ausgeschenkt.


Verblüffend: Den Probanden schmeckte derselbe Wein in roter und blauer Umgebung besser als in grüner und weißer. Bei Rotlicht erschien ihnen der Wein süßer und fruchtiger, die Flasche war ihnen deutlich mehr wert, als bei grünem Licht. Woran das liegt? Die Forscher können es nicht erklären. Schon länger ist bekannt, dass uns rote und gelbe Speisen „süß“ erscheinen. Rosa Gummibärchen sind süßer als grüne, rote Erdbeeren fruchtiger als weiße.


Aber die Farben allein reichen nicht als Erklärung. Der Mensch kennt weitaus mehr als die bekannten Geschmacksrichtungen Süß, Salzig, Sauer und Bitter. Allein fürs Bittere besitzt er 25 Rezeptoren, die unterschiedliche Nuancen wahrnehmen können. Zudem gibt es noch eine Geschmacksrichtung namens „umami“ fürs Würzig-Fleischige, sie wird besonders vom Geschmacksverstärker Glutamat bedient.


Erst kürzlich wurde ein sechster Sinn entdeckt: Der fürs Fett. Forscherin Fabienne Laugerette von der französischen Université de Bourgogne entdeckte ein Glykoprotein namens CD36, das sich auf den Spitzen der Geschmacksrezeptoren befindet und sensibel für Fette ist. Dies könnte, wie Laugrette findet, „durchaus klinische Bedeutung haben“. Denn Labortiere, denen das Protein im Mund fehlte, verzehrten viel weniger Kalorien als ihre Artgenossen.

Neben der Chemie kann auch die bloße Physik lecker sein. Jede Zunge reagiert auf taktile Reize. Weshalb ein hartes Brötchen anders schmeckt als ein weiches, obwohl es chemisch identisch zusammengesetzt ist. „Ein ekelhafter Schleim schmeckt auch deshalb ekelhaft, weil er schleimig ist“, sagt US-Neurophysiologe David Smith von der University Maryland.

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Weitere Komplexität erhält der Geschmack dadurch, dass er nicht nur über den Mund, sondern auch über die Nase kommt. So belegt jeder Schnupfen aufs Neue, wie fade ein Essen mit verstopfter Nase schmecken kann. Bis heute kennt man 8000 riechbare Verbindungen im Essen. Viele Forscher vermuten daher, dass etwa 80 Prozent der Geschmackseindrücke in Wirklichkeit Geruchswahrnehmungen sind.

Das erklärt die Sache aber auch nicht abschließend. Warum erreichen Japaner beim Frühstück mit Fisch-Sud und Algen eine Salzkonzentration, die man in Mitteleuropa als ekelhaft empfindet? Und warum schaut ein Inuit aus Grönland fassungslos, wenn wir in einen sauren Apfel beißen? Ursprünglich dachte man, dass solche Unterschiede hauptsächlich durch kulturelle Umgebung und Erziehung geprägt werden. Doch die Gene spielen dabei wohl auch eine große Rolle, wie eine Studie des Kings College in London zeigte.


Die englischen Forscher analysierten das Essverhalten von 3262 Zwillingen, und dabei zeigte sich, dass eineiige Zwillinge viel eher ähnliche Vorlieben wie etwa für Kaffee und Knoblauch haben als ihre zweieiigen Pendants. Insgesamt seien zwischen 41 und 48 Prozent der Geschmacksvorlieben durch das Erbgut beeinflusst, sagt Studienleiter Tim Spector.


Nichtsdestoweniger besitzt der Geschmack deutliche Zusammenhänge mit erlernten Erwartungen. Der französische Önologe Frédéric Brochet lud 54 Wein-Kenner zu einer Rotweinprobe ein, wobei er ihnen heimtückisch einen weißen Tropfen kredenzte, den er zuvor rot eingefärbt hatte. Kein einziger der Experten entlarvte das Täuschungsmanöver.



In einem anderen Versuch kosteten sie von einem Durchschnittstropfen, der in einer Flasche mit teuer-edlem Etikett ausgeschenkt wurde. Die Tester überschlugen sich in ihren Lobeshymnen, obwohl der Wein keinesfalls edel war. „Man schmeckt eben“, so Brochet, „was man erwartet zu schmecken."


Auch der Lebensstil prägt den Geschmack. So kennt die Psychologie so genannte „Sensationssucher“, die es zu geschmacklich eindeutigen, also zu scharfen, salzigen und deftigen Speisen genauso hinzieht wie zu starken Autos, riskanten Geschäften und anderen Intensiv-Reizen. Man findet sie, was nicht weiter verwundert, meistens unter Männern. Den Frauen hingegen bescheinigt der Nürnberger Psychologe Reinhold Bergler eine „umfassendere Genussfähigkeit“. Sie gingen etwa mit Gewürzen vorsichtiger um – und versalzen ihre Suppen seltener.

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Auf Bitteres reagieren Frauen empfindlicher als Männer. „Ihre Bitterschwelle liegt niedriger, sie schmecken bereits Speisen als bitter, auf die Männer noch nicht reagieren“, erklärt Maik Behrens vom Deutschen Institut für Ernährungsforschung in Potsdam. Was aber nicht bedeutet, dass sie zwangsläufig mehr auf Süßes ausweichen. Ihre Lust darauf ist weitaus mäßiger und differenzierter, als oft behauptet wird.


Und das ist schon in der Kindheit so, wie eine Studie der Universität Kopenhagen ermittelte. Demnach brauchen Jungen etwa 20 Prozent mehr Süßigkeiten und Zucker, bevor sie die Süße schmecken. Dies verstärkt natürlich ihre Neigung, mehr zucker- und kalorienreiche Speisen und Getränke zu verzehren, als ihnen gut tut.


Es gibt jedoch einen Zustand, indem Frauen und Männer gleich – nämlich gleich schlecht – schmecken. Laut einer Studie des ttz-Sensoriklabors in Bremerhaven sind nämlich Turtel-Paare kulinarisch nicht auf der Höhe. Man hatte zunächst in einem Fragenbogen den Verliebtheitszustand ihrer Probanden ermittelt, beispielsweise mit Fragen wie „Denken Sie häufig an Ihren Partner, wenn Sie getrennt sind?“. Danach machten sie einen Wahrnehmungstest, in dem ihnen Flüssigkeiten mit unterschiedlichen Geschmacksschwerpunkten kredenzt wurden.


Das Ergebnis: Die stark Verliebten reagierten auf bittere Lösungen ausgesprochen unempfindlich, und auch das Süße erkannten sie vielfach erst in höherer Konzentration als die weniger verliebten Probanden. Auf die Wahrnehmung salziger und saurer Nuancen hatte der Gefühlstaumel hingegen kaum Auswirkungen.


Woran das liegt? Ttz-Biochemiker Mark Lohmann führt die Einflüsse Amors auf den Geschmack auf dem Hirnbotenstoff Serotonin, der beim Empfinden von Süßem und Bitterem eine Schlüsselfunktion ausübt. Je weniger Serotonin die Tester im Blut hätten, desto stärker könnte sich der Geschmackssinn entfalten, vermutet Lohmann. Bei der Wahrnehmung von Salzigem und Saurem spiele das Hormon hingegen kaum eine Rolle.


Aus Sicht der Evolution ist jedoch der Bitter- und Süßverlust der Verliebten wiederum ein Rätsel. Biologisch gesehen bereiten sich verliebte Paare auf die Fortpflanzung vor, und als angehende Eltern sollten sie eigentlich sensibel für bittere Speisen sein, denn den Bitter-Rezeptor hat die Natur als wichtigen Sinn für Giftiges erfunden. Doch der Philosoph Friedrich Nietzsche ahnte schon: „Es ist immer etwas Wahnsinn in der Liebe.“

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