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Panorama Sänger Zucchero

„Ich sehe Europa gerade auseinanderbrechen“

Redakteur Titelthema Welt am Sonntag
Zucchero Zucchero
Der italienische Musiker Zucchero ist Realist: „Die Flüchtlingskrise ist zu kompliziert, als dass Künstler sie lösen könnten“, sagt er. Große Protest-Konzerte hätten heute nicht me...hr die Wirkung wie früher
Quelle: pa/dpa
Zucchero sang 2015 bei einem „Refugees-Welcome“-Konzert. Heute sagt er: In der EU gibt es keine Solidarität bei der Verteilung der Flüchtlinge. Ein Gespräch mit Italiens erfolgreichem Rockstar.

Sein Englisch ist auch nach 30 Jahren im internationalen Musikgeschäft von diesem schweren italienischen Akzent durchfärbt. Das ist sein Markenzeichen, seit er mit Paul Young vor vielen Jahren seinen Song „Senza Una Donna“ noch mal auf Englisch einsang – und damit einen Welthit hatte. Der Sänger, Gitarrist und Songschreiber Zucchero hat sich in all den Jahren nie ein Mainstream-Englisch oder -Amerikanisch antrainiert. Er ist geblieben, wie er ist – ein Rock- und Blues-Musiker, der Italienisch singt. Und manchmal eben Englisch. So ist er auch im Interview in Berlin – mit viel Verve auf Englisch. Nur wenn es sehr dramatisch wird, wechselt er in seine Muttersprache – und muss sich dann jedes Mal bremsen, um die Übersetzerin zu Wort kommen zu lassen.

Welt am Sonntag: Zucchero, würden Sie es heute noch schaffen, ein Kalb auf die Welt zu bringen?

Zucchero: Wie kommen Sie jetzt darauf?

Welt am Sonntag: Sie haben mal Tiermedizin studiert. Lernt man so was da nicht?

Zucchero: Ich habe das Studium an der Uni in Pisa leider nicht abgeschlossen. Von 53 Prüfungen habe ich nur 35 gemacht. Von daher könnte ich heute zwar sicher dabei helfen, ein Kalb auf die Welt zu bringen – zu mehr reichte es vermutlich nicht.

Welt am Sonntag: Warum wollten Sie Tierarzt werden?

Zucchero: Meine Eltern waren Bauern. Ich bin mit Schweinen, Hühnern, und Kühen aufgewachsen. Ich liebe das Landleben, Natur und Tiere. Von daher war es mein Wunsch, Tierarzt zu werden. Meine Liebe zur Musik, zum amerikanischen Rhythm’n’Blues war aber schon vorher da. Ich habe während meiner Studienzeit samstags und sonntags mit meiner Band gespielt. Ich hatte damals schon eine Familie, eine kleine Tochter. Irgendwann wurde mir klar: Musiker und Tierarzt, beides zusammen geht nicht, das wurde zu stressig. Meine große Liebe bleibt die Musik, aber ich besitze eine große Farm in der Toskana, mit vielen Tieren aus der örtlichen Fauna. Ich habe sechs Angestellte, wir stellen Wein her, Käse, Pasta. Wenn ich zu Hause bin, habe ich immer Tiere um mich herum. Musik ist gut für mich wie für alle Menschen, sie macht dich high, aber nicht krank. Nicht wie Drogen oder Kokain. Das würde Ihnen auch jeder Veterinär bestätigen – und meine Kühe übrigens auch.

Welt am Sonntag: Ihre Kühe?

Zucchero: Ja. Wenn ich ihnen Musik vorspiele, geben sie mehr und bessere Milch.

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Welt am Sonntag: Was für Musik spielen Sie denn?

Zucchero: Meistens klassische Musik. Meine Kühe hören gerne Puccini.

Welt am Sonntag: Sie selbst haben offenbar einen anderen Musikgeschmack, amerikanischen Blues und Soul. Sie haben immer wieder mit den ganz Großen zusammengearbeitet: Otis Redding, Ray Charles, Miles Davis – oder John Lee Hooker. Das liest sich immer so eindrucksvoll hintereinanderweg – aber wie haben Sie es als italienischer Musiker geschafft, jemanden wie Hooker als Gastsänger zu gewinnen?

Zucchero: Dabei war mir Eric Clapton behilflich, mit dem mich seit Langem eine Freundschaft verbindet. Ich nahm damals in einem Studio im kalifornischen Sausalito ein neues Album auf. Und ich hatte einen Song geschrieben, für dessen Refrain ich mir eine alte archaische Blues-Stimme vorgestellt hatte. Ich dachte sofort an John Lee Hooker. Eric gab mir die Nummer von Hookers Gitarristen. Der sagte, Hooker sei schon zu alt, aber ich könne ihm den Song ja mal schicken, er könne aber nichts versprechen. Eine Woche später rief er zurück: „Hey, wir können morgen früh bei dir im Studio vorbeikommen, Mr. Hooker und ich. Passt das?“ Fantastisch! Ich werde nie vergessen, wie John Lee Hooker dann in einer Limousine vorfuhr. Er ganz in Grau mit zwei sehr hübschen Frauen an seiner Seite. Ich versuchte, ihm zu sagen, wie ich mir seinen Einsatz vorgestellt hatte, aber das konnte ich gleich vergessen. Niemand sagte John Lee Hooker, was er zu tun hätte. Er hat einfach losgelegt, eineinhalb Stunden lang nur improvisiert und drauflosgebrummelt. Diese Session war eine der letzten, die er aufgenommen hat. Ich erinnere mich noch genau daran, wie ich das Album später in England abmischte, als ich die Nachricht von seinem Tod hörte. Die Begegnung mit ihm hat mich ungemein beeindruckt. Er sang: „I lay down with an angel, because he treat me kind some time“ – und dann... stirbt er, einfach so, nur ein paar Wochen später. Das hat mich schon ins Grübeln gebracht.

Welt am Sonntag: Die meisten Legenden, mit denen Sie gespielt haben, sind inzwischen gestorben: Hooker, B.B. King, Ray Charles, Miles Davis, Clarence Clemons oder Joe Cocker.

Zucchero: Ja. Der Tag wird kommen, an dem es eine Welt ohne Rolling Stones gibt – auch wenn sich das momentan niemand vorstellen kann. Nachdem zuletzt David Bowie und Prince kurz hintereinander gestorben sind, stand ich schon unter Schock. Das ist schon Furcht einflößend. Ich komme mir vor wie eine Waise. Immer mehr von meinen Idolen sterben. Nun waren Hooker oder Redding oder Ray Charles ja deutlich älter als ich. Aber in den vergangenen Jahren kamen die Einschläge immer näher – bumm, bumm, bumm.

Welt am Sonntag: Sie singen auch in einem Song Ihres neuen Albums „Black Cat“ davon, dass Sie den September Ihres Lebens erreicht hätten.

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Zucchero: Schön, dass Ihnen das aufgefallen ist. Ich habe den September meines Lebens erreicht, aber noch nicht den Winter. Hä, hä, hä. Ich bin jetzt 60. Ich würde gern noch so lange weitermachen wie die Blues-Männer B. B. King oder John Lee, bis Schluss ist. Ich bin ein bisschen melancholisch deshalb, aber nicht depressiv. Melancholie ist gut für Songs.

Welt am Sonntag: Wo Sie gerade die Stones angesprochen haben. Hat es Sie gefuchst, als die Band mit ihrem Gratiskonzert vor eineinhalb Millionen Menschen in Havanna weltweit Schlagzeilen machte, als hätte sie das Rad neu erfunden?

Zucchero: Nein, ich habe mich für die Kubaner gefreut. Warum sollte ich mich ärgern?

Welt am Sonntag: Na ja, vielleicht weil Sie 2012 unter damals schwierigeren Bedingungen ebenfalls ein Gratiskonzert in Havanna gegeben haben – vor 20.000 Zuschauern. Ohne dass Sie damit allerdings „breaking news“ produziert hätten.

Zucchero: Na ja, inzwischen ist es leichter, solche Events auf Kuba zu organisieren, als es bei mir noch der Fall war. Wir haben unsere eigene Bühne, einfach alles, das gesamte Equipment, per Schiff in zehn Containern von Genua aus zum Hafen von Havanna geschickt. Die Reise dauerte einen Monat, die ganze Vorbereitung sechs Monate. Also, was Gratiskonzerte in Havanna betrifft, war ich so eine Art Pionier. Ich hab’ es für die Kubaner gemacht, ich liebe kubanische Musik, habe dort mit Musikern gearbeitet. Wir haben uns gegenseitig viel Respekt entgegengebracht. Später habe ich noch Castros Bruder Raúl getroffen bei einem Dinner im Haus des Sohnes von Che Guevara. Da gab es dann noch eine Gitarren-Session.

Welt am Sonntag: Mit Raúl Castro?

Zucchero: Nein, mit einem seiner Berater, ein mächtiger Mann, sieht aus wie Che Guevara, lange Haare, Bart. Auf einmal fing er an, Gitarre zu spielen. Wir spielten kubanische Songs, „Guantanamera“, „Commandante Che Guevara“, so was halt.

Welt am Sonntag: Sie scheinen ein Faible für Auftritte an Orten zu haben, wo westliche Rockstars nur selten spielen. 1990 traten Sie kurz nach dem Fall der Mauer als erster westlicher Musiker im Moskauer Kreml auf. Wie haben Sie das geschafft?

Zucchero: Das kam im Rahmen eines Kulturaustausches zwischen Russland und Italien zustande. Die Italiener luden das Moskauer Staatsballett zu sich ein. Und die Italiener schickten mich – ohne dass die Russen zunächst wussten, wer ich war.

Welt am Sonntag: Das russische Publikum mochte Sie nicht?

Zucchero: Dachte ich erst auch. Am ersten Abend spielte ich vor ausverkauftem Haus – aber niemand klatschte. Ich bekam eine Panikattacke. Erst nach dem letzten Song setzte der Applaus ein, 15 Minuten Standing Ovations. Sie stürmten zur Bühne, warfen mir Hüte, Blumen, Jacketts zu. Ich dachte nur: Was zum Teufel geht denn hier ab? Dann sagte man mir: „Die hatten gedacht, es käme ein italienischer Opernsänger“ – und haben sich entsprechend verhalten. Seitdem spiele ich auf jeder meiner Tourneen in Russland.

Welt am Sonntag: Seit der Krimkrise sind die Beziehungen des Westens zu Putin abgekühlt. Würden Sie dennoch weiter in Russland auftreten?

Zucchero: Ja. Sicher, im Moment gibt es dieses Gefühl der Unsicherheit, man fragt sich, was noch alles passieren könnte. Der Krim-Konflikt war wie ein Alarm. Aber als Künstler spiele ich immer für die Menschen in einem Land. Ich habe meine politische Überzeugung. Es gibt Grenzen, wenn etwa Gewalt gegen Menschen, vor allem Kinder, offensichtlich ist, spiele ich in solchen Ländern nicht. Im Moment liegt in Russland viel Beunruhigendes in der Luft, es ist aber nicht so sichtbar. Also spiele ich für die Menschen. Persönlich habe ich mit der Politik dort im Moment nichts am Hut, das kann sich auch wieder ändern.

Welt am Sonntag: Wo würden Sie nicht auftreten?

Zucchero: Lange Jahre bin ich aus Prinzip nicht im Vatikan aufgetreten. Seit Papst Franziskus im Amt ist, hat sich meine Sicht auf die katholische Kirche geändert. Ich mag ihn. Er ist ehrlich, aufrichtig, das fühlt man. Er hat Bodenhaftung. Er ist authentisch. Aber wenn ich vor seiner Zeit aus dem Vatikan angerufen wurde mit der Bitte, dort aufzutreten, habe ich immer abgelehnt.

Welt am Sonntag: Bob Dylan hat’s trotzdem mal gemacht.

Zucchero: Ich weiß. Das haben mir italienische Journalisten oft unter die Nase gerieben: „Kommen Sie, Zucchero, geben Sie sich einen Ruck, selbst Bob Dylan hat im Vatikan gespielt und ist so der Erlösung ein bisschen nähergekommen.“ Ich antwortete: „Ich glaube eher, dass die Erlösung für ihn darin lag, dass er etwa 400.000 Dollar für das Konzert bekommen hat.“ Nicht dass Sie mich falsch verstehen: Ich mag die Priester in den kleinen Dörfern. Sie führen ein schlichtes Leben, sie sind für die Menschen da. Im Vatikan aber ging es lange Zeit nur um Machtpolitik.

Welt am Sonntag: 2015 haben Sie mit den Toten Hosen und anderen Bands in Wien vor 150.000 Menschen an einem Konzert für Flüchtlinge teilgenommen, „Refugees Welcome“ hieß es. Ist noch nicht so lange her...

Zucchero:...und es hat nicht lange gedauert, bis die Österreicher die Grenzen dichtgemacht haben, ja.

Welt am Sonntag: Nun gibt es zig Probleme mit der Unterbringung und Integration der vielen Flüchtlinge und die Angst vor islamistischen Terroristen, die sich als Flüchtlinge tarnen. War es naiv, eine Willkommenskultur, deren Halbwertszeit begrenzt war, mit einem Konzert zu feiern?

Zucchero: Ich sage Ihnen was: Als ich dazu eingeladen wurde, war ich beeindruckt, weil die Österreicher damals offen waren. Deshalb habe ich mitgemacht. Heute bin ich frustriert, dass ich an so einem Konzert teilgenommen habe, weil ich feststellen muss, dass man nicht nach vorn geht, sondern dass es Rückschritte gibt. Es kommt mir vor, als hätte ich in der Wüste gespielt. Alles ohne Wirkung. Die Flüchtlingskrise ist zu kompliziert, als dass Künstler sie lösen könnten. Diese großen Protest-Konzerte haben heute nicht mehr die Wirkung wie früher. Gäbe ich heute ein Konzert in Italien, um auf die Flüchtlingsproblematik aufmerksam zu machen, glauben Sie, die Leute interessierten sich noch dafür?

Welt am Sonntag: Vermutlich nicht.

Zucchero: Sehe ich auch so. Alle sind so abgestumpft. Ich überlege dennoch, ob ich auf Lampedusa ein Konzert gebe. Weil die Menschen dort nach wie vor helfen, obwohl die Insel bei all den vielen Hotspots der Flüchtlingskrise nicht mehr jene Aufmerksamkeit hat wie noch vor Jahren. Ich ziehe mich nicht zurück. Auch in der Europäischen Union gibt es keine Solidarität bei der Verteilung der Flüchtlinge. Auf Lampedusa fing es ja an mit den Gestrandeten. Schon damals war die Haltung der EU: Lass die Italiener mal sehen, wie sie damit klarkommen. Ich sehe Europa gerade auseinanderbrechen. Mauern und Zäune hochzuziehen ist auch keine Lösung. Deutschland war das erste Land, das sich entschlossen hatte, sich zu öffnen, hat guten Willen gezeigt. Ich sehe die Schwierigkeit, eine gemeinsame Lösung zu finden. Nur: Die Menschen werden sich nicht abhalten lassen, nach Europa zu fliehen, solange es Kriege und Bedrohungen in ihrer Heimat gibt.

Welt am Sonntag: In dem neuen Song „Streets Of Surrender“, den Ihnen U2-Sänger Bono geschrieben hat, singen Sie über die Folgen der Terroranschläge in Paris, ein Appell an die Kraft der Versöhnung.

Zucchero: Es ist ein Appell, den Hass nicht mit noch mehr Hass zu bekämpfen, ja.

Welt am Sonntag: Bei dem Anschlag während eines Rockkonzerts im Club „Bataclan“ war eine neue Dimension des Terrors erreicht, 89 Zuschauer wurden erschossen. Denken Sie daran, wenn Sie selbst heute auf die Bühne gehen?

Zucchero: Wenn ich anfange, darüber nachzudenken, was in Zeiten wie diesen passieren kann, bin ich nicht mehr frei. Ich meine, wie kannst du dann noch die Musik spüren, wenn du ständig an so was denkst? Das geht nicht. Aber die Anschläge haben Auswirkungen, ganz konkret in Paris. Dort verkaufen viele Musiker inzwischen nicht mehr so viele Tickets wie vor den Anschlägen. Die Leute haben Angst. Ich will so was für mich nicht zulassen, dann wird dein Leben sehr eng.

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