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Sport Phänomen im Sport

Darum flitzen Nackte so gern auf das Spielfeld

Immer wieder stören Flitzer Sportveranstaltungen in aller Welt. Die Wissenschaft rätselt: Was treibt diese Menschen an, sich über jegliches Schamgefühl hinweg in Szene zu setzen – und das meist nackt?

6. November 2011. Bundesligaspiel FC Augsburg – FC Bayern. Die Nachspielzeit läuft, es steht 1:2, als plötzlich ein Mann aufs Spielfeld läuft. Flink streift er seine Hose ab, jetzt trägt er nur noch Schuhe, Socken und eine Baseballkappe. Sonst nichts. Die Fußballprofis schauen verdutzt. Der Mann eilt Richtung Mittelkreis. Dort legt er einen vierfachen Flickflack rückwärts hin, bis fünf Ordner auf ihn zustürmen und ihn abführen. Die Zuschauer johlen.

Immer wieder gelingt es sogenannten Flitzern, Sportveranstaltungen zu stören. Oft nackt, manchmal (leicht) bekleidet, vor allem aber: zum Vergnügen des Publikums. Wer hat nicht schon einmal halb verwundert, halb belustigt den Kopf geschüttelt, wenn ein Nackter mit unverhüllt wackelndem Gemächt in der Arena die Sicherheitskräfte narrte? Unvermittelt herrscht in solchen Momenten Anarchie, wo sonst Kontrolleure regieren.

31. August 2013. Bundesligaspiel Hannover – Mainz. Es läuft die 77. Minute. Ein nackter Betrunkener hastet auf den Rasen. Weit kommt der Flitzer nicht, kurz hinter dem Strafraum grätscht ein Ordner ihn rüde um. Auf den Tribünen lachen die Leute. Der „Bild“-Zeitung wird der Flitzer mit dem 96-Tattoo auf dem Oberarm später erzählen, seine Frau sei drei Wochen zuvor zu seiner Verzweiflung zu Hause ausgezogen: „Ich dachte nur, ich muss was machen.“ Sie hingegen fand die Flitzer-Aktion eher untauglich: „Bist du bescheuert? Du blamierst uns alle!“

Für die Bundesligavereine sind Flitzer „kein oft vorkommendes, aber auch kein marginales Problem, sondern ein zu beachtendes und nicht zu unterschätzendes Sicherheitsthema rund um ein Fußballspiel“, sagt stellvertretend Thomas Herrich, Leiter der Geschäftsstelle von Hertha BSC. Fünfmal in den vergangenen zehn Jahren gelang es Einzelpersonen, als Flitzer bei Heimspielen im Berliner Olympiastadion aufs Spielfeld zu rennen. Anderswo passiert es öfter.

Hendrik Große Lefert, Sicherheitsbeauftragter im Deutschen Fußball-Bund (DFB), weiß: „Die Sensibilität bei den Verantwortlichen ist hoch. Zum einen, weil das Phänomen die Sicherung einer Veranstaltung berührt. Zum anderen, weil diese Leute sich selbst produzieren, natürlich in den Medien dargestellt werden und damit Nachahmer animieren.“

Neben den Einmaltätern, die aus einer spontanen Bierlaune heraus, oder weil sie eine Wette abgeschlossen haben, auf den Platz rennen, gibt es notorische Flitzer und solche, die planvoll handeln. Was treibt diese Menschen, sich über jegliches Schamgefühl hinweg derart unkonventionell in Szene zu setzen? Was sind ihre Motive?

Sexuell motiviert sind Flitzer nicht

Erstaunlicherweise ist das Phänomen des Flitzers bislang kaum wissenschaftlich erforscht. Psychologen wie Soziologen können bloß mutmaßen. „Es gibt keine Anzeichen dafür, dass das Verhalten von Flitzern sexuell motiviert ist“, sagt etwa Philipp Hammelstein, Professor und leitender Psychotherapeut an der Christoph-Dornier-Klinik in Münster. „Es geht weniger um eine Form der Provokation als viel mehr darum, gesehen zu werden.“

Hammelsteins These: „Es geht Flitzern bei Großereignissen darum, einmal geballte Aufmerksamkeit zu bekommen, einmal die Aufmerksamkeit wegzuziehen von Ronaldo und Co. Die maximale Aufmerksamkeit wird so zu einer Form von Anerkennung. Und Bedeutung für andere zu haben“, sagt Hammelstein, „ist eines der Grundbedürfnisse des Menschen.“

6. Juli 2006. Wimbledon, Centre-Court. Im Viertelfinale gegen Jelena Dementjewa hat Maria Scharapowa gerade Aufschlag, als der niederländische Radio-DJ Sander Latinga auf den Platz huscht – bekleidet nur mit einem Paar schwarzer Socken in Turnschuhen. Er hampelt herum, winkt, grinst, schlägt ein Rad. Scharapowa hat ihm den Rücken zugedreht. Sekunden vergehen, dann wickeln Ordner den Nackten in eine rote Decke und führen ihn ab.

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Der Darmstädter Sportsoziologe Karl-Heinrich Bette sieht die „Sozialfigur des Flitzers zunächst einmal als Konsequenz der fortschreitenden Medialisierung sportlicher Wettkämpfe“. Der Flitzer falle durch einen zweifachen Tabubruch auf: „Er verletzt erstens überfallartig den ‚heiligen’ Raum des Sports, der üblicherweise nur von Athleten und Schiedsrichtern betreten werden darf. Er verstößt zweitens gegen den Kodex der guten Sportsitten, indem er sich seiner Kleidung entledigt und nackt einem Publikum präsentiert, ohne dass dieses auf die ungeschminkte Beobachtung von Nacktheit vorprogrammiert ist.“

Seit den 1970er-Jahren hat Flitzen zugenommen

Da nackte Körper „durch die Erotisierung öffentlicher Räume zumindest in den entwickelten Gesellschaften des Westens nicht mehr provozieren können, reagiert das anwesende Sportpublikum auf Flitzer im Stadion nicht mit Scham und Empörung, sondern mit Johlen und Beifall“, sagt Bette – „und manchmal auch mit einem mitleidigen Lächeln, wenn das, was gezeigt wird, unterdurchschnittlich ausgeprägt ist“.

Seit den 1970er-Jahren sind zunehmend Flitzer bei großen Sportveranstaltungen zu sehen. Ob Super Bowl im Football, Tennis in Wimbledon, Galopp in Ascot, Golf bei den British Open oder Fußball-WM überall auf der Welt – kaum eine der großen Bühnen, die noch kein Nackedei betreten hat.

Dass in psychologischer Fachliteratur praktisch nichts zum Thema zu finden ist, verwundert insofern. Die „Montreal Gazzette“ berichtete im September 1974 von einer Studie der University of South Carolina. Der Psychologieprofessor Robert Heckel fand damals heraus, dass der durchschnittliche Flitzer groß, weiß und männlich ist, 85 Kilogramm wiegt und auf dem Zeugnis einen Zweier-Durchschnitt aufweist. Heckel: „Ich habe festgestellt: Das war ein Haufen ganz normaler Kids. Irgendwelche Verrückten habe ich nicht gefunden.“

Nacktflitzen als uralte Mutprobe

An manchen amerikanischen Eliteuniversitäten gehört „streaking“, also das Nacktflitzen, nach wie vor zu lang etablierten Mutproben. Die Tradition lässt sich bis an den Beginn des 19. Jahrhunderts zurückverfolgen. Erster aktenkundiger Flitzer Amerikas war der Legende zufolge demnach 1804 George William Crump. Als 28 Jahre alter Student wurde er von der Polizei festgenommen, weil er nackig durch Lexington (US-Bundesstaat Virginia) gerannt war. Geschadet hat es seiner Perspektive nicht: Crump zog Jahre später als Abgeordneter in den Kongress ein.

Mit Exhibitionismus hat Flitzen übrigens nichts zu tun, meint Psychologe Hammelstein, denn: „Exhibitionisten sind normalerweise sozial ängstliche Menschen. Doch als sozial ängstlicher Mensch laufe ich nicht über ein Fußballfeld! Exhibitionisten zeigen einem Gegenüber zentral ihr Geschlechtsteil, wollen für Erschrecken sorgen und werden dadurch sexuell erregt. Dieses Verhalten kann ich bei Flitzern im Sport nicht erkennen.“

Es gehe also nicht um sexuelle Provokation. Hammelstein: „Wieso zeigen sich diese Menschen dann oft nackt? Meine Vermutung ist, dass ihre Aktion dadurch einen spielerischen Charakter erhalten soll. Während bekleidete Flitzer in der Regel einfach nur als störend empfunden werden, findet das Publikum die Nackten lustig. Wir können das, wenn wir auf Fotos von Flitzern genau hinschauen, an den Reaktionen der Zuschauer erkennen. Sie empfinden keinen Ärger, sondern Amüsement.“

Mehr als 500-mal geflitzt

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Heutzutage wissen die Quasi-Profis unter den Flitzern, wo sie am meisten auffallen. Mark Roberts, 49, ist einer von ihnen. Seit 1993 stört der Brite in der ganzen Welt Veranstaltungen, größtenteils sportliche. Mal als Frau verkleidet, mal als Schiedsrichter, gelang es dem findigen Roberts bereits mehr als 500-mal zu „flitzen“. Derart berüchtigt ist er inzwischen, dass er vor jedem größeren Fußballmatch in der Nähe seine Wohnorts seinen Pass abgeben und sich auf einer Polizeistation melden muss, um nachzuweisen: Er ist nicht im Stadion.

Einmal hat ihn ein amerikanisches Magazin gebeten, etwas über die Sicherheitsmaßnahmen in Stadien zu schreiben. Roberts lehnte ab: „Ich wollte den Sicherheitsfirmen keine Chance geben, mein Schlupfloch aufs Spielfeld zu erkennen.“

Solche Schlupflöcher sucht und findet Jaume Marquet Cot, 38, ebenfalls immer wieder – obwohl auch er mittlerweile weltberühmt ist. Marquet Cot ist besser bekannt als Jimmy Jump. Sein Hang zum illegalen Sprung auf den Rasen hat dem Spanier, der seit Anfang vergangenen Jahres in Hamburg lebt, im Laufe der Jahre ungezählte Bußgelder und mehr als 300.000 Euro Schulden eingebrockt. Jimmy Jump ist praktisch pleite.

Im Gespräch mit der „Welt“ sagt er: „Aber was soll ich tun? Springen ist mein Leben, meine Passion. Wenn ich springe, fühle ich mich frei.“ Er weiß: „Es gibt wenige, die Verständnis dafür haben.“ Im Gegensatz zu Roberts und den anderen Nacktflitzern würde Jimmy Jump sich allerdings nie entblößen. Stattdessen trägt er T-Shirts, zum Beispiel mit Botschaften gegen Rassismus.

27 Stunden verbrachte Jimmy Jump im Gefängnis

2010, kurz vor Anpfiff des Finals der Fußball-WM im Soccer-City-Stadion von Johannesburg, hätte er nach einem 70-Meter-Sprint beinahe geschafft, dem goldenen Weltmeisterpokal seine rote Mütze überzustülpen. Eine Armlänge vom Ziel entfernt wurde er vom Sicherheitspersonal jedoch rüde zu Boden gerissen und verbrachte anschließend 27 Stunden in Haft: „Kein schönes Gefühl. Die Menschen im Gefängnis gehören nicht zu den nettesten“).

Umgerechnet 200 Euro Strafe haben sie ihm aufgebrummt. Er hat darüber gegrinst. Das war es ihm wert. „Ich genieße es, ich will, dass die Leute Spaß haben. Ich freue mich, wenn die Leute sich freuen“, sagt Marquet Cot. „Ich möchte ihnen ein Lächeln aufs Gesicht zaubern.“

Nur eines kommt für den Promi unter den Flitzern nach eigenem Bekunden nicht mehr in Frage: Sich von einem Sponsor für eine Störaktion bezahlen zu lassen, wie andere Flitzer es tun. Ein Internet-Casino-Unternehmen hat ihm vor Jahren zwar mal Trips nach Athen und Hongkong bezahlt, doch als eine andere Firma ihm vor dem WM-Finale 2010 eine Summe von 30.000 Euro anbot, um mit einem Werbe-T-Shirt aufs Feld zu laufen, winkte Marquet Cot ab: „Ich tue das für mich. Nicht für andere.“

10. November 2004. Olympiastadion München. Im DFB-Pokal trifft Bayern München auf den VfB Stuttgart. In der zehnten Spielminute läuft plötzlich eine als Dalmatiner verkleidete Frau mit Hundemaske aufs Feld. Sie nähert sich Oliver Kahn, kuschelt sich kurz an den verdutzten Nationaltorwart und lässt sich dann widerstandslos von Stadionordnern abführen. Auf ihrem weißen Pullover ist Werbung für Hundepudding zu sehen. Kahn schmunzelt später: „Ich weiß gar nicht, warum so Leute immer zu mir kommen.“

So amüsant Flitzer für das Publikum auch sein mögen (zuvorderst die nackten) – für die Vereine sind sie ein echtes Ärgernis. Denn als Veranstaltungsausrichter drohen ihnen empfindliche Strafen. Die möglichen Höhen hat der Deutsche Fußball-Bund (DFB) in seiner „Rechts- und Verfahrensordnung (RVO)“ in Paragraf 7 festgelegt.

„Nicht ordnungsgemäße Platzherrichtung und nicht ausreichender Ordnungsdienst“ wird demnach mit einer Geldstrafe bis zu 50.000 Euro belegt, „mangelnder Schutz des Schiedsrichters, der Schiedsrichter-Assistenten oder des Gegners“ mit Geldstrafen bis zu 100.000 Euro.

Hansa Rostock nahm erfolgreich drei Männer in Regress

„Wenn nach einem Vorfall nachvollziehbar ist, dass alles für die Sicherheit getan wurde, dann hat das Sportgericht auch die Möglichkeit, im Rahmen der verschuldensunabhängigen Haftung entsprechend milde zu sanktionieren. Das DFB-Sportgericht betrachtet hier immer den Einzelfall und das Gesamtbild eines Vereins bei seinem Urteil“, sagt der DFB-Sicherheitsbeauftragte Große Lefert. Der Verein könne „diese Strafe auch beim Täter zurückfordern“.

Dem FC Hansa Rostock etwa wurde 2003 eine Strafe von 20.000 Euro aufgebrummt, weil im Bundesligaspiel gegen Hertha BSC zunächst zwei und wenig später ein dritter Flitzer auf den Rasen gelangen konnten. Der Verein nahm die Störenfriede erfolgreich in Regress: 2006 gab das Oberlandesgericht Rostock einer Klage von Hansa statt, derzufolge die Strafe in voller Höhe an die drei Männer weitergereicht werden dürfe.

Nicht immer allerdings können Störenfriede in Regress genommen werden. In Berlin wie anderswo in der Republik auch erhalten sie jedoch in jedem Falle „eine Anzeige und ein Hausverbot sowie ein bundesweites Hausverbot“, wie Hertha BSC erklärt.

Als Messi einmal vom Flitzer abgeklatscht wurde

Ein solches vermiest seit seinem bis dato letzten „Jump“ 2012 in Berlin Jaume Marquet Cot die Laune: Nachdem er damals Herthas Heimspiel gegen den FC St. Pauli gestört hat, wurde der Spanier mit einem bundesweiten Stadionverbot – nach seinen Angaben bis 2016 – belegt. Jimmy Jump sagt: „Ich leide.“

15. August 2012. Fußballstadion Frankfurt, Länderspiel Deutschland – Argentinien. Es läuft die 90. Minute, Spielstand 1:3. In Höhe des Mittelkreises spaziert plötzlich ein (bekleideter) Mann auf den Rasen. Niemand folgt ihm, also klatscht der Flitzer feixend mit Lionel Messi ab. Fröhlich marschiert er anschließend Richtung Auslinie, wo ihn Ordner in Empfang nehmen.

„Als Sicherheitsbeauftragter sage ich: Ich möchte in jedem Fall aufmerksame Ordner – und sollte doch ein Flitzer aufs Spielfeld gelangen keine unkoordinierten Jagdszenen zwischen Ordnern und Flitzern, aber auch keinen lockeren Spaziergang“, sagt Hendrik Große Lefert.

Jimmy Jump kennt die ganze Welt

Die Ordner in Berlin seinerzeit hätten „sehr besonnen und ruhig eingegriffen, was in der Öffentlichkeit sehr gut ankam. Es war dieser Situation angemessen. Aber: Wenn der Flitzer einen Spieler geschlagen hätte, wäre der Aufschrei – zu Recht – groß gewesen.“ Das Räuber-und-Gendarme-Spiel – es bleibt eine Gratwanderung.

Die europäische Fußball-Union sensibilisiert „im Rahmen von Sicherheitskonferenzen oder bei Fortbildungen mit Vereinen und Verbänden“, wie die Uefa auf Nachfrage mitteilte. Die sogenannten Host Broadcaster, also die im jeweiligen Land live übertragenden Fernsehstationen, werden gebeten, Flitzern keine Bühne zu geben – was nicht immer gut funktioniert, wie zu sehen ist.

Jimmy Jump kennt die ganze Welt. 2012 hat der Spanier stolz zehn Jahre Flitzerkarriere gefeiert. Er sagt: „Ich wollte immer berühmt sein. Das habe ich geschafft.“ Zur WM im Juni in Brasilien würde er zwar gern reisen: „Aber ich habe kein Geld. Und: Dort warten sie ja schon auf mich. Vielleicht müsste ich dann ins Gefängnis.“

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