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Medien Playstation & Co.

Die Kulturrevolution aus der Konsole

Chefkorrespondent Feuilleton
Die Pubertät der Computerspiele hat fünfundzwanzig Jahre gedauert. Seit dem Advent 2013 ist sie vorbei. Tritt die nächste Konsolen-Generation jetzt an die Stelle von Buch, Theater und Kino?

Es ist 1715, ich bin in der Karibik. Es ist halb sechs morgens, ich bin in meinem Schlafzimmer. Errol Flynn oder Johnny Depp hätten mich kaum so lange wach gehalten. Dabei mache ich seit Stunden nichts anderes als die beiden in Filmklassikern wie „Unter Piratenflagge“ und „Fluch der Karibik“: rumsegeln, auf Schiffe schießen, sie entern, kleiner Kampf mit der Besatzung, per Seilwinde zum Ausguck hochturnen, den letzten Engländer hinunterstoßen, die Aussicht genießen.

Das ist ein bisschen repetitiv, zugegeben, aber immer wenn ich aufhören will, tanzt ein Mast am Horizont, ich richte mechanisch das Fernrohr darauf, zoome heran und stelle fest, dass der Schoner, die Brigg oder am besten die Fregatte jede Menge Metall geladen hat. Und ich brauche doch so dringend den nächsten Rumpfausbau, um die Piratenjäger fertigzumachen, die sich wieder auf meine Fersen gesetzt haben.

Zwar ist mir die Frau längst weggelaufen, das geht wohl nicht nur Computerspielern, sondern auch Seeräubern so, aber dafür habe ich eine ganze Insel zu versorgen, samt Taverne, Werft und Freudenhaus. Die Insel liegt mir ziemlich am Herzen, habe ich die Vorbesitzer doch mit großer Sorgfalt aus dem hohen Gras heraus erdolcht, mit diesem super Schnappsporn, für den die Assassinen früher den Mittelfinger opfern mussten, heute, also 1715, ist zum Glück die Technik besser.

„Super Mario“ ist unser Mensch ärgere Dich nicht

2013 auch. Sony und Microsoft haben gerade Playstation 4 beziehungsweise Xbox One vorgestellt, die das Altmodische nur noch im Gattungsbegriff tragen: Konsole, einst der Arbeitsplatz am Großrechner, auf Lateinisch der Tröster. Maschinen zum Drinverschwinden, schwarze Löcher, die Lebenszeit einsaugen und nie mehr preisgeben. Abstrakte Chiffren für den jüngsten Traum vom künstlichen Paradies.

Seit fast einem Jahrzehnt stagnierte die Evolution des Gamings, mit den Vorgängerkisten PS3 und Xbox 360, die ich aus Überdruss am vielen Computerspielen meiner Jugend links liegen gelassen hatte. Ich war nie, was Kenner einen Hardcore-Gamer nennen, fühlte mich immerhin locker jener Generation verbunden, die im Kindergarten zwar mit Bauklötzchen spielte, aber hinterher gleich „Tetris“. „Super Mario“ war mein Mensch ärgere Dich nicht, obwohl ich mich dabei ziemlich viel ärgerte, vor allem bei den Endgegnern.

Ungeschick und Ehrgeiz sind eine explosive Mischung, wie jetzt gerade, inzwischen Viertel vor sieben, die Spanier feststellen müssen, im dichten Rauch meiner Kanonen und Drehbassen ein Schatten ihrer selbst. Zwar erst nach der dritten Desynchronisation, wie der Spielertod in „Assassin’s Creed IV: Black Flag“, Spitzentitel unter den spärlichen Veröffentlichungen für die neuen Spielgeräte, albernerweise genannt wird, aber immerhin.

Auch ein Roman ist leichter als das Leben

Zwischendurch flaut der Ehrgeiz ab wie eine launische Brise, und ich cruise durch die Karibik. Gehe in Havanna spazieren, schaue dem Spiel der Wellen zu oder mache diesen tollen Adler-Move auf hoch gelegenen Vorsprüngen, wo sich in Zeitlupe die Kamera dreht und den Blick freigibt auf eine unwahrscheinliche Welt, sonnendurchflutet, warm und weit. Da muss draußen gar nicht „Xaver“ toben, ein Sturm von der Sorte, den man nicht einfach umfahren kann wie in „Assassin’s Creed“ die Windhosen auf dem Meer, weil sie so praktisch in dem kleinen Fenster unten links angezeigt werden, die echten Piraten hätten so ein Navigationssystem zur Optimierung des Brandschatzens bestimmt auch zu schätzen gewusst.

Die künstliche Wirklichkeit war immer schon einfacher als das Leben, das ist ja gerade der Witz und gilt genauso für Romane, Filme, Theaterstücke. Selbst für die kompliziertesten Sachen, weil sie so durchkomponiert sind. Die Verwandtschaft des Computerspiels mit der Wirklichkeit liegt aber darin, dass vielleicht nicht alles, aber eine Menge möglich ist, dass einem niemand vorschreibt, wohin die Reise geht. Entschuldigung, Proust, Wahnsinnsding, die „Recherche“, aber eben eine Recherche, eine Fixierung von Potenzial, keine Verlebendigung, Form statt Freiheit.

Das Drehbuch zu „GTA V“, genialisches Vermächtnis der letzten Konsolengeneration, hatte angeblich über tausend Seiten. Das muss einen jetzt nicht übermäßig beeindrucken. Dass man Computerspiele für Kunst hält, in einem angenehm unemphatischen Sinne, der nicht versucht, „Leisure Suit Larry“ in den Louvre zu stecken, sondern eher überlegt, mit welchem Controller sich Géricaults „Floß der Medusa“ wohl am besten steuern ließe, ist hoffentlich keine Überraschung.

Das populärste Kulturerzeugnis der Gegenwart

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Aber um Seitenzahl, Gigabytes, Polygone und Texturen kann es dabei ja wohl nicht gehen, gerade weil einen die technischen und ökonomischen Rekorde schwindeln machen. „GTA V“ kostete über 200 Millionen Dollar und setzte in den ersten drei Tagen über eine Milliarde um. Davon würde Hollywood träumen, wenn es noch Träume übrig hätte. Sony lässt in China eine Million Playstations im Monat bauen und kann damit die Nachfrage nicht mal annähernd befriedigen. Wer das Computerspiel das populärste Kulturerzeugnis der Gegenwart nennt, sagt nichts als die Wahrheit.

Lakonisch erzählt davon eine frühe Sequenz des neuen Spiels „Call of Duty: Ghosts“. Der Spieler, ein Sergeant namens Logan Walker, stapft durch die Ruine eines alten Theaters oder plüschigen Premierenkinos. Dann tritt er nach draußen an die Luft. In der Ferne der Hügel eines Los Angeles des 24. Jahrhunderts ragen traurig und geborsten die Lettern des Hollywood-Schriftzugs. Die Melancholie der Post-Apokalypse umgibt die Handlung wie ein Trauerflor, den man im Alltag des Spiels rasch vergisst. Es gilt, die Hightech-Waffen nachzuladen, den Schäferhund Riley per ausgeklügelter Funkweste zu dirigieren, Kämpfer der sogenannten Föderation ins Fadenkreuz des Scharfschützengewehrs zu bugsieren und die Taste zu drücken, die auf dem formschönen Controller der rechte Zeigefinger umschmeichelt: Peng.

Dazwischen immer wieder das sanfte Wogen der Grashalme, aus denen der Lauf einer Remington R5 blitzt. Erhabene Momente eines in Echtzeit errechneten Naturschönen, das man umso mehr bewundern kann, als es nicht perfekt ist, nur fast. Lange war das Computerspiel düsteren Kellern vorbehalten, vor und hinter dem Bildschirm. Ab sofort gleißen alle Kirchturmspitzen im Sonnenlicht oder huschen, im Rennspiel „Forza 5“, die Schatten eines Audi R8 oder Lamborghini Aventador über das klamme Kopfsteinpflaster eines fotorealistischen Prag.

Computerspiele unterliegen des Gesetzen der Evolution

Mit dieser Konsolengeneration überschreitet das Computerspiel eine Schwelle und nähert sich einer anderen auf Haaresbreite. Zum einen tritt es fünfundzwanzig Jahre nach seiner Mainstream-Geburt durch Gameboy und Nintendo Entertainment System endgültig in die Epoche der eigenen Geschichtlichkeit. Grafisch und narrativ hat sich das Genre die ganze Zeit über mit Riesenschritten von seinen Ursprüngen emanzipiert. Nostalgie für untergegangene Welten war ihm daher immer schon eigen.

Im Überleben der Fittesten, der Auslese elektrogenetischer Programmcodes triumphierte „Street Fighter“ über „Pacman“, „Quake“ über „Doom“, „The Wolf Among Us“ über „Alone in the Dark“. Doch erst heute verschwinden allmählich die Augenzeugen der Anfänge, die neuen Spieler kennen sie nicht mehr aus eigener Anschauung, sondern durch Wikipedias Ahnentafel. PS4, das Kürzel der vierten Playstation-Generation, fasst das symbolisch. Beim Menschen bleiben Erinnerungen drei Generationen frisch, weil sie die Enkel staunend aus dem Mund der Großeltern erfahren. Danach beginnt das Abstraktum der Historie. Im ungleich schnelllebigeren Computerspiel, dessen Puls permanent auf 180 ist und das Stunden zu Minuten verdichtet, hat dafür ein Vierteljahrhundert gereicht.

Der anderen Schwelle nähert man sich schon lange in einer subjektiven Asymptote, also mit dem Eindruck, dass man jeden Moment hingelangen werde, ohne dort je anzukommen. Die Rede ist von der grafischen Perfektion, dem originalgetreuen Nachbau dieser Welt oder dem Entwurf einer zweiten. Deren Details und Dimensionen in der neuen Software machen sprachlos. Leider nicht nur die Spieler, sondern auch die Entwickler. Die immensen Möglichkeiten der Hardware scheinen sie bislang eher einzuschüchtern, sodass sie Spiele entwerfen wie wunderschöne Frauen, ihnen aber die Sprache versagen, weil sie sich sowieso nie trauen würden, sie anzusprechen.

Wenn die Technik die Biologie einholt

Im Trailer des Sandalenspiels „Ryse: Son of Rome“ sieht es unglaublich gut aus, wie Muskelprotze im Lendenschurz Schwertstreiche mit zitternden Schilden abwehren, dann im beherzten Sprung dem Barbaren die Klinge bis zum Schaft in die Brust bohren. Langweilt beim Spielen leider total. Dass Grafik alles sei, ist der Trugschluss, zu dem der berechtigte Jubel darüber verleitet, dass heute in eine Pralinenbox passt, worunter früher ein Rechenzentrum zusammengebrochen wäre.

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Schaut, rufen PS4 und Xbox One, wir verändern das Wesen des Computerspiels, wie Apples Retina Display das Wesen des Smartphones verändert hat. Wir schließen auf zum Menschenmöglichen, markieren den Moment, in dem die Technik die Biologie einholt, in dem die Augen schlappmachen vor den Pixeln, die so klein geworden sind, dass man in ihnen nicht mehr die Pickel der Unterhaltungselektronik erkennt. Ihre Pubertät hat fünfundzwanzig Jahre gedauert. Seit letzter Woche ist sie vorbei.

Deshalb zeigen die neuen Spiele so gern ihre Muskeln und können dabei vor lauter Kraft kaum laufen. Auch das Gameplay von „Killzone: Shadow Fall“ auf der Playstation fühlt sich steril an, zu eingenommen von der eigenen Grandezza. Es ist ja auch nicht so einfach, ein Meisterwerk zu programmieren wie das legendäre „Monkey Island“, dessen dreiköpfiger Affe in die Kulturgeschichte eingegangen ist, ebenso wie Guybrush Threepwood, ein Held aus der Frühgeschichte der Computerspiele, dessen Erfinder es noch witzig fanden, ihn nach der Datei seines ersten Entwurfs zu benennen, guybrush.bbm, eine reine Technizität, im Nachhinein zur Figur erhoben.

Marshall McLuhan spielt auch mit

Im Gegensatz dazu bleibt die Hauptfigur von „Killzone“ technisch. Sie heißt Marshall Lucas Kellan, was so klingt, als hätte man mit dem Namen des Kommunikationstheoretikers Marshall McLuhan stille Post gespielt. Er ist berühmt für seinen Satz „The medium is the message“. Selten galt das mehr als für diese Leistungsschau der Hardware.

Der Flug über Vekta City, Hauptstadt des gleichnamigen Planeten, den die Vektaner zur Hälfte den Helghast überließen, nachdem sie deren Heimat Helghan vernichtet hatten, ist dennoch ein ästhetisches Wunder. Man meint, durch Ridley Scotts Meisterwerk „Blade Runner“ zu reisen, nur dass die Düsternis einem magischen Licht gewichen ist. Die Videosequenz aus einer Welt, die wahnsinnigerweise genauso frei begehbar ist, sollte in die Lehrpläne von Architekturstudiengängen aufgenommen und verstimmten Menschen im Berliner Winter gezeigt werden; sie würden sofort ein bisschen glücklicher.

Die grafischen Kraftprotzereien gehen mit trashigen Storys einher, entweder beschießen Terroristen aus Raumstationen die Erde, oder Typen mit Robotermasken üben einen Genozid an friedliebenden Vätern. „Assassin’s Creed“ bemüht schon zum vierten Mal den Templerorden, ohne den auch kein Dan Brown auskommt.

In Berlin bleiben, auf Barbados sein

Bei Produktionskosten im dreistelligen Millionenbereich ist es andererseits wenig erstaunlich, dass Bestseller und Blockbuster den Fabeln Pate stehen. Die intellektuelle Schlichtheit der Plots steht in auffälligem Gegensatz zur Umständlichkeit der Expositionen. Die These, dass Computerspiele den Kindern Aufmerksamkeitsdefizitsyndrome antrainierten, ist schon deshalb unhaltbar, weil sie ihnen gleichzeitig ultraöde und endlose Einführungen aufbürden, um sie mit den Grundzügen der hanebüchenen Geschichte und der Steuerung vertraut zu machen.

Es gibt aber Hoffnung, etwa den Krimi „The Wolf Among Us“, ästhetisch eng mit den besten Animationsfilmen verwandt, aber ein echtes Computerspiel, indem es den Spieler zur handelnden Instanz macht. Noch der dümmste Ego-Shooter trägt durch das Hineinversetzen in die Spielfigur den Keim einer Schule der Empathie in sich. Und die zentrale Rolle, die in „Killzone“ einer Drohne zukommt, sowie in „Assassin’s Creed“ die Gründung der freien Piratenrepublik Nassau, ein digitales Utopia, sind scheue Versuche, das gegenwartsdiagnostische Potenzial des Genres zu entfalten.

Es gibt eine „Simpsons“-Folge, in der Bart und Homer auf einer Spielemesse an einem Poster vorbeigehen, auf der ein Hippie eine Gitarre hält. Die Finger seiner linken Hand formen das Peace-Zeichen, durchschnitten von einer herausschnappenden Klinge. Der Schriftzug in Psychedelic-Optik wirbt für „Assassin’s Creed: Summer of Love“.

Was auf den ersten Blick wie ein absurder Scherz wirkt, verdeutlicht nur die Möglichkeiten, die dem Computerspiel in Zukunft offenstehen: Parallele Wirklichkeiten, 1715 und heute, Hippies und Auftragsmörder, Monster aus der Zukunft und das Programm der Piratenpartei, bieten sich zur Montage an. Man muss nur den Absprung wagen, wie der Assassine von der Takellage ins endlose Blau des Meeres. Ich ziehe die Vorhänge vor den frühstückenden Nachbarn zu, schalte die Konsole aus und genieße ihr letztes Geschenk, den Traum eines Sommers, in dem Barbados und Berlin verschmelzen.

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