Dass Vergangenheitsbewältigung als Quell bunter Ideen taugt, beweist heute niemand besser als Mika. Auf seinem zweiten Album "The Boy Who Knew Too Much" führt das zu einem fröhlich zusammenfantasierten Freundeskreis. Liebesbedürftige Aufziehpuppen, sprechende Katzen, ein irrer Alter namens Dr. John - in den verspielten Popsongs tummeln sich die unsichtbaren Freunde eines traumatisierten Junggebliebenen.
Bereits auf seinem Debütalbum "Life In Cartoon Motion" vor zwei Jahren setzte sich das in London lebende Wunderkind mit einer traurigen Jugend auseinander. In der Schule war der Sohn einer Libanesin und eines Amerikaners ein Außenseiter: der seltsame Akzent, die bunte Kleidung, seine damals dickliche Statur.
Kaum vorstellbar - der Lockenkopf arbeitet heute nebenher als Model. Die Mutter nahm den Sohn kurzzeitig aus der Schule und schickte ihn zum Gesangsunterricht. Das half: In der Musik fand er zu Selbstbewusstsein und stand als Elfjähriger bereits vor großem Publikum auf der Opernbühne.
Im harten Alltag blieb Michael Penniman, so Mika bürgerlich, jedoch ein ängstlicher Sonderling. "Als Jugendlicher habe ich mich gefürchtet, Menschen anzusprechen." Er, der auf der Bühne den schrillen Entertainer gibt, gibt zu, sich auch heute schnell unter Menschen überfordert zu fühlen. "Auf Partys stehe ich in der Ecke und warte darauf, dass mich jemand anspricht. Dann ärgere ich mich, dass ich nicht mutiger bin."
Anstatt sich einem Therapeuten anzuvertrauen, therapiert sich Mika auf der aktuellen Platte lieber vor einem Millionenpublikum selbst. Herzschmerz, Hormonschübe und Identität - hier wird jeder Aspekt verwertet. Das erklärt, warum die Songs den Eindruck erwecken, man sei gerade in das Zimmer eines Pubertierenden geplatzt.
Indes weiß der 26-Jährige jede Gefühlsnuance in ein intelligentes Stilgerüst zu kleiden und klingt mal passenderweise wie Freddy Mercury, bald wie Elton John, Michael Jackson, die Scissor Sisters und in schwächeren Momenten immer noch wie Robbie Williams.
Bombast überbordender Lebensfreude
In "We Are Golden" schlägt dem Hörer ein Bombast überbordender Lebensfreude entgegen. Mika erzählt von Jugendträumen und thematisiert darauf einige Stücke weiter in der Ballade "I See You" von seinem zur Einsamkeit verdammten Voyeurismus. Euphorie und Lethargie liegen in der Gefühlswelt eines exaltierten Teenagers eng beieinander. Dabei holten Mika vor seinem zweiten Album alte Selbstzweifel ein: Würde er weiterhin vor Fans und Kritikern bestehen?
Geholfen haben dem Musiker bei den Kompositionen vor allem jene fantasierten Jugendfreunde, die man auch im Booklet zu sehen bekommt. Dr. John aus dem gleichnamigen Lied etwa, der Herr mit Vorliebe für Hühnerfedern, soll Mika schon damals in manch schwieriger Stunde beigestanden haben. Oder die Puppe, die in "Toy Boy" - das als Reminiszenz an Disneys Filmklassiker mit Geigen, Klarinette und Querflöte aufwartet - mit samtener Stimme über böse Voodoo-Zauber klagt.
Mika liebt das Theatralische: Breite Streicherarrangements, Falsett-Gesänge und Gospel-Chöre finden in den wunderbar eingängigen Melodien immer wieder Verwendung.
Allerdings laufen die humorvoll erzählten Reflexionen auch Gefahr, im Strudel chaotischer Effekthascherei unterzugehen. Das allerdings ist durchaus gewollt. Jugendliche Unsicherheit vertreibt man am Besten mit lauter Kurzweil. Was er anders machen würde, wenn er nochmals 15 wäre? Er wolle sich nicht mehr fürchten, sagt Mika, hält kurz inne und fügt lachend hinzu: "Und ich würde unglaublich viele Drogen nehmen, Party machen und mich für nichts mehr entschuldigen."
Mika: The Boy Who Knew Too Much (Universal)