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Kultur Milva ✝

Sie machte den Klassenkampf begehrenswert

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Weltstar Milva, eine selbstbestimmte Frau Weltstar Milva, eine selbstbestimmte Frau
Weltstar Milva, eine selbstbestimmte Frau
Quelle: Getty Images/ Peter Bischoff
„Ganz Frau und trotzdem frei zu sein“, das war in den 70er-Jahren auch ihr Motto – und mehr noch das ihrer zahlreichen Anhängerinnen. Die selbstbestimmte Frau, die Schlager, Chanson und noch viel mehr beherrschte. Ein Nachruf auf die Sängerin Milva.

La Rossa. Die roten Haare. Flammengleich. Dazu der grell geschminkte Mund – wie eine offene Wunde. Und die so wütend wie sinnlich herausfordernden Augen und der Arm, der in kühnem Schwung die kaskadenhaft wallende Frisur bändigte.

Das war Maria Ilva Biolcati, die die Welt als Milva liebte. Die italienische Sirene mit der gellenden, schnarrenden Stimme, die aber auch so wunderbar flehen wie flüstern konnte. Von herausfordernder Erotik, selbstbestimmt, mit ihrer offensiv ausgestellten Sexualität spielend, wie einst die spanischstämmige Margarita Carmen Cansino, besser bekannt als Hollywood-Göttin Rita Hayworth.

„Und an diesem Mittag wird es still sein am Hafen, / Wenn man fragt, wer wohl sterben muss. / Und da werden sie mich sagen hören: Alle! / Und wenn dann der Kopf fällt, sage ich: Hoppla!“ Die Deutschen kannten die brechtsche Seeräuber-Jenny vornehmlich aus dem Mund der Urinterpretin Lotte Lenya, wo sich Nichtsingenkönnen mit Wienerischer Gosse, Berliner Göre und Weltläufigkeit zur proletarischen Perfektion mischte. Und plötzlich hörten sie diese ein wenig abgedroschene Ballade aus der „Dreigroschenoper“ mit einer Stimme voll Sehnsucht und Verlangen, mediterraner Verlockung und trotzdem mitleidloser Vendetta.

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Milva, die Schlagersängerin, die erst zur Schauspielerin avancierte und dann als Chansonnette geadelt wurde, sie sang die „Dreigroschenoper“ als „L’opera da tre soldi“ 1972 in der legendären (auch verfilmten) Giorgio-Strehler-Inszenierung am Mailänder Piccolo Teatro wie als „L’Opéra de quat’sous“, für die Teile des Textes von Boris Vian übersetzt wurden, am Pariser Kult-Theater Bouffes du Nord und als „Three Penny Opera“ im englischsprachigen Raum.

Aus dem Singspiel heraus emanzipierte sie sich als eine der führenden, weil diszipliniert ihre vielfältigen Vokalmittel einsetzenden Brecht-Interpretinnen überhaupt. Der Ritterschlag kam schließlich aus New York. Von dort schrieb Lotte Lenya in einem Telegramm, nachdem sie Milva bei den Berliner Festspielen gehört hatte: „Milva setzt die beste musikalische Tradition von Kurt Weill fort.“

Milva bei einem ihrer letzten Auftritte im März 2012
Milva bei einem ihrer letzten Auftritte im März 2012
Quelle: dpa

Dabei sah es zunächst ganz anders aus. Maria Ilva Biolcati wurde am 17. Juli 1939 in Goro bei Ferrara geboren. Mit zwanzig gewann sie einen Wettbewerb für neue Stimmen mit über 7000 Teilnehmern. 1960 nahm sie ihre erste Single auf: eine Coverversion von Edith Piafs „Milord“; zwei Jahre später sang sie das sakrosankte Piaf-Repertoire bereits im Pariser Olympia. Doch schon 1961 debütierte Milva auf dem italienischen Schlager-Olymp, dem Festival von Sanremo, wo sie den dritten Platz belegte. Analog zu ihrer ewigen Konkurrentin Mina, der Tigerin von Cremona, wurde sie als „pantera di Goro“ verehrt. Aus ihrer von 1961 bis 1969 dauernden Ehe mit ihrem Manager Maurizio Corgnati stammt die 1963 geborene Tochter, die Kunstkritikerin Martina Corgnati.

Schon ganz am Beginn ihrer Karriere machte Milva Furore mit ihrem jazzig angehauchten, molto dolce tönenden „Tango Italiano“ (2. Platz in Sanremo 1962). Über die Jahrzehnte emanzipierte sie sich, lange bevor es Revival-modisch wurde, als eine wunderbar vielseitig schillernde Interpretin des echten argentinischen Tangos – von Carlos Gardel bis zu Astor Piazzolla, mit dem sie immer wieder aufgetreten ist.

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Mitten in den aufrührerischen Sixties erarbeitete sich die längst auch politisch eingefärbte La Rossa erstmals 1965 mit dem strengen Giorgio Strehler das kleine wie große Bert-Brecht-Organon des Singens. Und auf einmal tönte alles Politische auch sinnlich, die trockene Didaktik saftig, der Klassenkampf weich und begehrenswert. Auf Italienisch strahlten nicht nur der „Barbara Song“ und der „Surabaya Johnny“ in südlicher Sonne, auch die „Ballata Della Donna Del Soldato Nazista“ atmete plötzlich den milderen, sensitiveren Duft von Bittermandel und Limoncello.

1978 nahm Milva die emanzipatorische Single „Zusammenleben“ mit der Musik von Mikis Theodorakis, einem anderen überzeugten Sozialisten, und den Worten des für sie bedeutungsvoll werdenden Texters Thomas Woitkewitsch auf und wurde dadurch schlagartig im deutschen Sprachraum bekannt. „Ganz Frau und trotzdem frei zu sein“, das war schnell irgendwie auch ihr Motto – und mehr noch das ihrer zahlreichen Anhängerinnen. Die selbstständige Frau, die ihre weiblichen Attribute nicht versteckt. Ein Idealbild im beginnenden Geschlechterkampf der BRD: Schlager als Abbild gesellschaftlicher Veränderungen. Und Milva mittendrin!

Milva, Mitte der 1970er Jahre
Milva, Mitte der 1970er-Jahre
Quelle: picture alliance / United Archives/ Siegfried Pilz
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So avancierte sie zu einer festen TV-Größe, in der Samstagabend-Schlagershow wie in der feineren Chanson-Ecke. Milva gab im Westen wie im Osten Konzerte und Tourneen, begeisterte in der Deutschlandhalle wie im Friedrichstadtpalast und nahm Lieder von Francis Lai und immer neue deutschsprachige Titel auf. „Freiheit in meiner Sprache“, von Ennio Morricone komponiert, und „Hurra, wir leben noch“, das Klaus Doldinger vertonte, wurden hierzulande ihre größten Erfolge. Theodorakis und Woitkewitsch standen ebenfalls hinter ihrem bestplatzierten deutschen Album „Von Tag zu Tag“.

Milvas Sangessiege waren längst internationale. Trotzdem nahm sie bis 2007 insgesamt 15 Mal am Sanremo-Festival teil, ohne je zu gewinnen. In den Achtzigerjahren wirkte sie zudem in mehreren Spielfilmen mit. In Mittel-, West- und Südeuropa war sie aus dem Fernsehen nicht wegzudenken. Polyglott sang sie ihre Lieder neben Italienisch, Englisch, Deutsch und Französisch auch auf Spanisch, Griechisch, Portugiesisch und sogar Japanisch. Sogar an die Klassiker von Zarah Leander und Marlene Dietrich traute sie sich.

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(Eingeschränkte Rechte für bestimmte redaktionelle Kunden in Deutschland. Limited rights for specific editorial clients in Germany.) Catarina Valente, Singer, Italy - on stage at "Petula Clark Show", German TV, ZDF (Photo by ARTCO-Berlin/ullstein bild via Getty Images)
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Aber auch eine Diva altert. Milva, immer und ewig rothaarig, machte sehr lange weiter, verließ sich auf das Erreichte, wenig neue Facetten kamen zum längst ikonischen Gesamtbild hinzu. Sie trat in der Mailänder Scala, der Deutschen Oper Berlin, der Royal Albert Hall wie der Pariser Opéra auf. „Wie man sich bettet, so liegt man“ funkelte nach wie vor provokativ. Sie ließ sich gern weiterhin den „way to the next whiskey bar“ zeigen. Und immer noch bejubelten sie die Massen, selbst neben Montserrat Caballé und Angelika Milster strahlte ihre scheinbar zeitlose Kunst. Doch das Gedächtnis der Göttin machte irgendwann nicht mehr mit.

Schon 2010 kündigte sie an, dass sie aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr auftreten werde. Gleichzeitig erschien ihr letztes Album mit Songs von Franco Battiato. 2011 nahm sie noch mit Stephan Sulke das Duett „Das muss doch gehn“ auf; ein paar Mal war sie danach noch im Fernsehen zu sehen. Sie hat sich dann konsequent zurückgezogen, ist weder in den Schlagerseilen noch in den Seidenschnüren des Chansons hängen geblieben. Am 23. April ist Milva in Mailand gestorben. La Rossa wurde 81 Jahre alt.

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