Am Himmel über Westeros strahlt die Sonne. Es muss herrlich sein, ihn auf dem Rücken der Drachin Syrax zu durchqueren. Die Wolken so zart wie Watte. Und unten leuchten die Dächer von Königsmund, der Hauptstadt der Sieben Königslande. Kein Wunder, dass Prinzessin Rhaenyra aus dem Hause Targaryen nach der Landung ihrer Freundin Alicent erklärt, sie wolle eigentlich nichts mehr als Kuchen essen und Drachen reiten.
Mein Freund, der Drache. Dass sich Mensch und Ungetüm in der diese Woche gestarteten HBO-Serie „House of the Dragon“ so gut verstehen, hat natürlich seinen Grund. Waren die drei Drachen in der Ära der Vorgänger-Serie „Game of Thrones“ für die Menschen schockierend, weil sie eigentlich schon ausgestorben und nur deshalb zum Leben erweckt worden waren, weil Prinzessin Daenerys mit drei Dracheneiern in das Feuer eines Scheiterhaufens stieg, gehören sie in der gut 200 Jahre vorher spielenden Epoche noch zur existierenden Art. Gleich 17 von ihnen werden von einem mönchsartigen Orden gehegt und gepflegt wie kostbare Reitpferde.
Doch der Drachenkult in „House of the Dragon“ ist nur ein Beispiel für eine bemerkenswerte Renaissance, die die geflügelten Echsen derzeit erleben. Mittelerde-Fans spekulieren noch, ob in der Anfang September startenden Amazon-Serie „Herr der Ringe“ Smaug auftreten wird; in Trailern war der Drache, der in der von Tolkien geschaffenen Fantasiewelt die Zwerge aus ihrer Stadt im Berg Erebor vertrieben hat und ihren Schatz eifersüchtig bewacht, noch nicht zu sehen. Laut US-Magazin „Variety“ aber könnte bald Drachenreiter Eragon zur Serie werden, Disney+ soll die Rechte an Christopher Paolinis Buchreihe gekauft haben. Und schon jetzt kündet der Trailer von „Dungeons & Dragons“ für 2023 ein großes und zudem klamaukiges Drachenspektakel an.
Schon immer haben Drachen die Menschen unterschiedlichster Kulturen in ihren Bann gezogen. Und auch in der Popkultur sind sie längst gelandet. Zu den jüngeren vergnüglichen Beispielen gehört das Lied von „Puff, the Magic Dragon“, dessen erste deutsche Version Marlene Dietrich 1963 interpretierte. Es wurde zur Hippie-Hymne, nachdem das Gerücht die Runde machte, hier werde das Rauchen von Marihuana besungen. Die Schöpfer des Liedes wiesen das entschieden zurück. Und wirklich: Drachen sind keine Kiffer. Sie dampfen nicht, sie spucken Feuer. Sie machen nicht viel Rauch um nichts. Wo sie in Aktion treten, geht es zur Sache. Ist das vielleicht auch ein Grund dafür, dass sie derzeit so populär sind wie nie?
Für den Germanisten und Erzählforscher Heinz Rölleke, der bis zu seiner Emeritierung als Professor für Deutsche Philologie und Volkskunde in Wuppertal lehrte, hatten Drachen schon immer die Funktion, Ängsten eine Gestalt zu geben, „als Verkörperung des sehr Gefährlichen“. Die mythologische Gestalt des Drachen speit nicht nur Feuer, sondern auch Wasser, wird für verheerende Feuersbrünste ebenso verantwortlich gemacht wie für Überschwemmungen. „Wenn Menschen etwas nicht verstehen, machen sie ein Bild daraus“, sagt Rölleke. „Die Vorstellung, dass ein Dämon oder ein anderes Ungeheuer dahintersteckt, gibt einen Zielpunkt und ist beruhigend.“
Wir glauben nicht mehr an Mythen. Und die Drachen der Postmoderne, all diese Ungeheuer, die uns auf Bildschirmen und aus Fantasyromanen entgegenspringen, erklären uns nicht die Katastrophen der Gegenwart. Aber auch sie geben dem Bedrohlichen ein Gesicht. Ein grausames, brüllendes. Und wenn sie besiegt werden, gibt es uns zumindest für den Moment, in dem wir sie betrachten, das Gefühl, dass das Beängstigende beherrschbar ist.
Zudem sind die neuen Drachen keine stumpfen Monster, keine angewesten Zombies oder unappetitlichen Orks, diese willigen Vollstrecker dunkler Mächte. Drachen haben etwas Erhabenes und durchaus Elegantes. Drachen können Verbündete im Kampf gegen das Böse sein, gegen Gier und Machthunger, gegen die Bestie Mensch. Kaum eine Szene machte das so deutlich wie die flammende Attacke von Drache Drogon, der zum Ende von „Game of Thrones“ den Eisernen Thron schmilzt – die Ursache allen Gemetzels.
Der Drache, so Heinz Rölleke, hatte schon immer zwei Seiten. Nicht ohne Grund wurde er zum viel geliebten Wappentier, das etwas Gefährliches ausdrückte, aber auch Tapferkeit, militärische Stärke. So wie der Draco, das Feldzeichen, mit dem die Römer im ersten Jahrhundert in Germanien eingefallen sind. Draco, ein schlangenartiges Wesen mit einem Haupt, das man heute als Drachenkopf bezeichnen würde, ist der Ursprung des deutschen Wortes „Drachen“. Übersetzt heißt Draco: „Einer mit dem scharfen Blick“. Im Militär, sagt Rölleke, sei Scharfsichtigkeit eine wichtige Eigenschaft.
Die Germanen kannten bis zur Begegnung mit den Römern nur den Lindwurm, ein riesiges kriechendes Wesen, meist ohne Flügel. Zu den bekanntesten gehört Fafnir aus der Nibelungensage, der das Rheingold bewachte. Der Lindwurm, den Siegfried erschlug, ist indes namenlos. Doch auch er hatte eine positive Seite. Siegfrieds Bad im Blut der besiegten Bestie verhalf ihm zu ungeahnter Widerstandskraft. Was für eine psychologische Erkenntnis! Aber auch das macht den Menschen aus: dass jeder, selbst ein Held wie Siegfried, der beim Drachenblutbad nicht das Lindenblatt zwischen seinen Schultern bemerkte, und nur dort verletzlich blieb, einen wunden Punkt hat.
Das vom Christentum geprägte Mittelalter kannte den Drachen nur von seiner düsteren Seite. Sein Bild wurde von der Bibel geprägt. Der Drache, der nach der Offenbarung in der Zeit der Apokalypse wütet, ist ein wahres Ungeheuer. Er ist Satan persönlich und wird schließlich im Endkampf zwischen Gut und Böse vom Erzengel Michael in die Hölle gestürzt. Dass der Drache im Volksglauben unter der Erde haust, könnte in dieser Erzählung seinen Ursprung haben. Vulkane, deren Aktivität lange naturwissenschaftlich nicht erklärt werden konnte, mögen die Vorstellung von einem unterirdischen Schwefel atmenden Ungeheuer bestärkt haben.
Wenn Menschen etwas nicht verstehen, machen sie ein Bild daraus
Die ersten Drachendarstellungen ähneln einer Würgeschlange beim Verdauen eines großen Beutetieres. Waren das reale Eindrücke, die in die Drachen-Fantasie geflossen sind? Der griechische Geschichtsschreiber Herodot berichtet 450 von einer Reise in die ägyptische Stadt Buto, die angeblich jedes Jahr von Flugschlangen überfallen wurde. Priester führten ihn zu einer Stelle mit Skeletten geflügelter Ungeheuer. Mit großer Wahrscheinlichkeit handelte es sich um einen Fund fossiler Flugsaurier.
Während bis heute im ostasiatischen Kulturraum der Drache als durchaus mächtig und bedrohlich, bei guter Verehrung aber als Glücksbringer gilt, blieb er auch nach dem Mittelalter im Volksglauben der westlichen Welt die Inkarnation des Satans. Angebliche Sichtungen dienten häufig als Beweis dafür, dass sich eine unliebsame Nachbarin mit dem Teufel eingelassen hätte. Davon zeugt beispielsweise die Ortschronik der Stadt Bernau bei Berlin in einem Bericht über die Ratsversammlung am 2. Dezember 1617, in der es um die der Hexerei angeklagte Dorothea Meermann ging. Zeugen sagten unter Eid aus, sie hätten mit ihren eigenen Augen auf dem Hausdach der Angeklagten einen Drachen gesehen, der auch bei ihr ein- und ausgeflogen wäre und den sie gefüttert hätte. Die Frau starb schließlich unter der Folter.
Mit dem Ende der Hexenverfolgung hat auch der Drache im Volksglauben keine wirkliche Bedeutung mehr. Und schon Ende des 19. Jahrhunderts machte sich in der Kinderliteratur die Figur des Drachen bemerkbar, der eigentlich ganz nett ist. Den Anfang machte 1897 der britische Autor Kenneth Grahame mit dem „Drachen, der nicht kämpfen wollte“.
In den 1970er-Jahren sorgte die italienische Zeichentrickfigur von „Grisu“ für Entzücken. Der kleine Drache wehrte sich ganz im Sinne des pazifistischen Zeitgeistes gegen die Versuche seines Vaters, einen anständigen Feuerspeier aus ihm zu machen. Aber Grisu träumte von einem Leben als Feuerwehrmann.
Michael Ende schuf für seine 1979 erschienene „Unendliche Geschichte“ den Kuscheldrachen Fuchur, der den jungen Krieger Atréju bei seinen Abenteuern vor allem durch die Empfehlung unterstützte, stets auf sein Glück zu vertrauen.
Wenige Jahre später kreierte Peter Maffay für seine musikalischen Kindergeschichten Tabaluga, den kleinen grünen Drachen auf der Suche nach sich selbst. Auch Ohnezahn aus dem Film „Drachenzähmen leicht gemacht“ ist ein eher freundliches Wesen, dem der Wikingerjunge Hicks nur deshalb nachjagt, weil er seinem Vater imponieren will. Doch als Hicks bemerkt, dass die Echse seinetwegen bei einer Jagd die Schwanzspitze verloren hat, bricht er mit der Familientradition des Drachentötens.
Wirklich keine schlechte Idee, ausgerechnet den Drachen, den Wilden, Ungestümen, zum Objekt zu machen, an dem sich die Frage des Erwachsenwerdens stellt. Von Drachen kann man lernen. Das zeigt auch Norberta, das norwegische Stachelbuckel-Weibchen aus „Harry Potter und der Stein der Weisen“. Wildhüter Hagrid hat das Drachenei beim Kartenspiel gewonnen und ist ganz gerührt, als die Kleine schlüpft. Aber irgendwann fängt sie an, ganz fürchterlich zu wachsen. Und auch die Drachin Syrax aus „House of the Dragon“ wird noch andere Seiten zeigen, als Prinzessin Rhaenyra beim Himmelsflug durch die Wattewolken über Westeros zu tragen.