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  4. Michèle Roten über Frauenkörper, Fußfetischisten und BH-Abstinenz

ICONISTA Frauenkörper

„Selbst ich finde es geil, wenn der Ober- so dünn ist wie der Unterschenkel“

Haare, Hintern, Urogenitalsystem: Die Autorin Michèle Roten hat einen Essay über ihren Körper und seine Geschichten vorgelegt. Ein Gespräch über Fußfetischisten, Frauen ohne BH und widersprüchliche Figur-Gedanken.
Michèle Roten hat ihren Körper von Kopf bis Fuß in einem „Schreibprozess“ betrachtet
Michèle Roten hat ihren Körper von Kopf bis Fuß in einem „Schreibprozess“ betrachtet
Quelle: Tom Haller

Nein, mit dem Lineal ausgemessen habe sie sich nicht. Die „Auto-Autopsie“ ihres Körpers, erzählt Michèle Roten, sei eher ein Studieren, Beobachten, systematisches Abhören gewesen, von den Haaren bis zu den Füßen. Was die 42 Jahre alte Journalistin und Buchautorin dabei herausgefunden hat, kann man in ihrem Essay „Wie mit (m)einem Körper leben“ (Echtzeit) nachlesen.

Darin geht es im Grunde nicht nur um einen, sondern um alle Frauenkörper, um widersprüchliche Gedanken zur eigenen Figur, um Füße und Fetischismus, um eine Nase und ihre Korrektur. Nur um Frauen, die keinen BH tragen, geht es nicht – darüber haben wir mit ihr am Telefon gesprochen.

ICONIST: Welches Körperteil hat Sie bei näherer Betrachtung überrascht?

Michèle Roten: Ich habe so viel zu meinen Füßen zu sagen, das fand ich erstaunlich. Mir ist auch diese Geschichte wieder eingefallen, mit dem Mann im Kino, daran hatte ich lange nicht gedacht. Der Körper ist ein sehr mächtiges Erinnerungsmoment, allein durch Narben und Spuren ist da viel eingeschrieben. Wenn man Körperstellen anfasst oder betrachtet, weckt das Erinnerungen, so wie es Gerüche tun.

ICONIST: Der Mann erzählte Ihnen und einer Freundin, er habe eine Wette verloren und ob Sie ihm nicht im Kino für 50 Franken Ihre Schuhe im Gesicht herumreiben könnten. Da waren Sie beide etwa 14.

Roten: Ui, Shit, was war da los? Das dachte ich, als ich jetzt noch einmal mit Erwachsenenaugen auf diese Geschichte geschaut habe. Wir haben damals gar nicht gecheckt, was da läuft, und uns total naiv prostituiert. Was ich mich frage: Kommt Fußfetisch bei Frauen genauso häufig vor wie bei Männern?

ICONIST: Bei Frauen, befinden Sie, tut sich körperlich im Laufe des Lebens einfach mehr als bei Männern.

Roten: Ich glaube, der Körper hat viel mehr Einfluss auf das Leben einer Frau und wie es verläuft, als rationale Menschen wahrhaben wollen, zu denen ich mich auch zähle. In den 20ern ist Sex ein großes Thema, in den 30ern dann vielleicht Schwangerschaft, Geburt und Stillen, schließlich kommen die Wechseljahre, über die ich noch nicht berichten kann. All das verändert das Leben.

Ihr mieses Image haben die Wechseljahre nicht verdient

ICONIST: „Keep his balls empty and his belly full“ – „Sorgen Sie dafür, dass seine Hoden leer und der Bauch voll ist”. Das zitieren Sie in Ihrem Buch. Ist damit die Wartung des Männerkörpers tatsächlich abgeschlossen? Viele Männer sehen das wohl anders.

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Roten: Das Zitat ist ja sozusagen eine „Wartungsanleitung“ für Frauen in der Beziehung mit einem Mann. Natürlich ist es nicht so einfach, aber in der Tendenz glaube ich schon, dass Frauen und Frauenkörper aufwendiger sind. Ich habe nicht bei Männern nachgefragt, wie sich ihr Körper verändert, aber ich wollte auch gar keinen fairen Geschlechtervergleich aufziehen und nichts erklären, sondern nur den Finger darauf halten. Im Frauenkörper passiert halt mehr, und schon diese harmlose Feststellung fanden einige Männer in meinem Umfeld total ungerecht. Das finde ich bezeichnend.

ICONIST: Was ist zuletzt mit Ihrem Körper passiert?

Roten: Seit einem Jahr habe ich ein bisschen Rückenprobleme. Wenn ich mich bücke, merke ich: Es läuft einfach nicht mehr ganz so rund wie früher. Das ist nur eine Kleinigkeit, die das Leben nicht wirklich beeinflusst oder behindert, aber es ist eben immer irgendetwas mit dem Körper, und sei es nur ein Pickel oder Durchfall. Mir fallen auch ständig noch Dinge ein, die auch noch ins Buch gehört hätten. Es ist eine never ending story.

ICONIST: Was ist Ihnen noch eingefallen?

Roten: Das Erste, was Frauen weltweit im Lockdown gemacht haben, war, auf ihren BH zu verzichten. Okay, cool, weg mit dem Teil! Das finde ich interessant: Ich habe wenig Busen, ich brauche keinen BH und habe meistens doch irgendetwas an. Da geht es bloß darum, die Mitbürgersituation zu beruhigen. Sobald man ohne BH rumläuft, wird das registriert. Männer denken, die Frau will damit etwas sagen, dabei ist es einfach nur sehr bequem, keinen BH zu tragen.

Eine Alternative zu unbequemen BHs

ICONIST: Mit Push-up-BHs zum Beispiel können sich Frauen körperlich modellieren, genauso wie mit High Heels. Das beschreiben Sie als „Lügen und Krücken“. Aber eröffnen Mittel wie diese nicht die Freiheit so auszusehen, wie Frauen wollen?

Roten: Natürlich, das kann man auch so betrachten. Es bleibt aber doch eine Veränderung einer Tatsache in eine Richtung, die irgendwie von Normen vorgegeben ist – und das macht wiederum unfrei. Ich verdamme das aber nicht, ich habe keine ideologische Sicht auf Push-ups und High Heels. Außerdem habe ich selbst meine Nase korrigieren lassen.

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ICONIST: Das Ergebnis Ihrer Nasenkorrektur haben Sie bei der Ärztin mit „Yup“ kommentiert, es gab keinen „Ich fühle mich wie ein neuer Mensch“-Moment. Wieso haben Sie den Eingriff überhaupt vornehmen lassen?

Roten: Man weiß vorher nicht, wie es sich anfühlt und ob es das Leben verändert. Aber das war auch nicht mein Ziel. So wichtig war mir meine Nase gar nicht, ich wollte auch nicht hübscher werden, sondern einfach diese Nase, die in meinen Augen immer schlecht gelaunt aussah, nicht mehr angucken müssen. Oder mit Kindern darüber reden, ob ich jetzt eine Hexennase habe oder nicht. Für mich war die Operation eine Art Abhaken: Okay, ich muss mir keine Gedanken mehr darüber machen, dass ich so eine gebogene Nase habe.

Michèle Roten
Quelle: Tom Haller

ICONIST: Ihre Oberschenkel mögen Sie auch nicht …

Roten: Nein, ich mag sie nicht nicht! Aber wenn ich mir welche kaufen könnte, dann wären es nicht die.

ICONIST: Ginge das, würden Sie sich für dünne Modellbeine mit einer Thigh Gap entscheiden, einer Lücke zwischen den Oberschenkeln. Gleichzeitig finden Sie Frauen mit kräftigen Oberschenkeln schön – und schreiben, dass solche Widersprüche bei Frauen das Ergebnis ganz perfider „Gehirnfickmechanismen“ seien. Werden Frauen die eines Tages los?

Roten: Selbst ich, die sich bewusst mit Schönheitsidealen, Feminismus und gesellschaftlichen Normen auseinandersetzt, finde es eigentlich geil, wenn der Oberschenkel so dünn ist wie der Unterschenkel. Das ist schon echt pervers, oder? Für eine Weile haben wir Ideale gefeiert, die nicht gesund sind, und ich denke, jetzt brauchen wir noch ein, zwei Generationen, bis die Normen sich geändert haben.

ICONIST: Bewegungen wie „Body Positivity“ oder „Body Neutrality“, also die Idee, sich auf die Gesundheit und nicht das Aussehen des Körpers zu konzentrieren, wollen daran arbeiten. Was halten Sie davon?

Roten: „Body Positivity“ fand ich anfangs schön, war aber auch schnell genervt davon, weil es einen neuen Druck erzeugt. Ich strebe nach größtmöglicher Freiheit, und wenn ich dann wieder ein schlechtes Gewissen habe, weil mir tatsächlich mal etwas an meinem Körper nicht gefällt, finde ich das nicht cool. Ich bin eher für „Body Neutrality“: Ja, ich habe einen Körper, und er ist und so. Idealerweise ist mir egal, wie er aussieht, aber wenn mir etwas daran nicht gefällt, kann ich das sagen oder ändern, ohne dass es mich zu einem oberflächlichen Menschen macht.

Auch sie vertritt „Body Neutrality“ bzw. „Body Acceptance“

ICONIST: Sie haben einen Sohn. Sprechen Sie mit ihm über Körper?

Roten: Ja, an den Vorgängen im Körper ist er sehr interessiert. Aber was das Aussehen betrifft, ist das bei ihm bis jetzt kein großes Thema. Ich bin aber sehr hellhörig auf die ersten Gedanken in die Richtung.

ICONIST: Angenommen, Sie hätten eine Tochter. Was würden Sie ihr mitgeben wollen?

Roten: Ich kriege bei Freundinnen, die Töchter haben, mit, was das für eine Nummer ist. Puh. Ein Mädchen wird in der Schule gehänselt, weil sie schon weiter entwickelt ist als andere, einen weiblicheren Körper hat. Das ist ein Riesenproblem, das Mädel baut gerade ihre ersten Komplexe auf. Die Mutter vermittelt ihr, dass ihr Körper wunderbar ist, aber das hilft nichts im Moment.

Ich glaube, als Mutter würde ich meiner Tochter sagen, dass sich alles ständig verändert: ihr Körper, aber auch ihr Selbstverständnis. Sachen, die ihr heute nicht gefallen, wird sie irgendwann toll finden und umgekehrt, oder es wird einfach egal. Aber es ist ein schmaler Grat: Was ist zum Beispiel mit einem ungesund dicken Kind? Sollen die Eltern zu ihm sagen: „Du bist super, so wie du bist, iss nur weiter“? Und wenn nicht – das ist ja noch schrecklicher.

Sie hat wissenschaftliche Erkenntnisse ausgewertet

ICONIST: In Ihrem Buch stehen an keiner Stelle die Worte „Patriarchat“ oder „Kapitalismus“, wie man es von anderen Publikationen über den Frauenkörper inzwischen gewohnt ist. Einzig im Vorwort werden Sie explizit politisch: Sie hätten Sorge gehabt, dass „nur schon das Unterfangen (das Buch zu schreiben, Red.) verurteilt wird, weil ich weder behindert, adipös, of color, krank oder transsexuell bin“. Muss man das 2021 klarstellen?

Roten: In meinen paranoiden Momenten habe ich das Gefühl, ja. Alle, die schreiben oder eine Plattform haben, kennen das vielleicht: dass man schon während des Schreibens überlegt, wie die, die einem nicht wohlgesonnen sind, Kritik anbringen könnten. In diesem Fall war die Paranoia um einiges gesteigert, weil der Körper noch immer ein empfindliches Thema ist.

Und ja, ich habe mir tatsächlich überlegt, ob ich das machen soll, weil ja alles so normal ist. Es wäre natürlich 100 Mal interessanter, jemand hätte dieses Buch geschrieben, die oder der mit einer Behinderung auf die Welt gekommen ist. Aber das ist bei mir nicht der Fall, und ich habe schon so – mit meinem gesunden, normalen Körper – viel zu erzählen. Das allein scheint mir bemerkenswert.

"Wie mit (m)einem Körper" leben" von Michèle Roten ist bei Echtzeit erschienen
„Wie mit (m)einem Körper“ leben“ von Michèle Roten ist bei Echtzeit erschienen
Quelle: Echtzeit

Michèle Roten wurde 1979 geboren, sie ist Autorin, Journalistin und Mitinhaberin des Secondhand-Ladens The New New in Zürich. In ihren Büchern setzt sie sich immer wieder mit dem Frausein auseinander, zuletzt in „Wie Mutter sein“ (2013). Roten schrieb zehn Jahre lang die Kolumne „Miss Universum“ für „Das Magazin“, aktuell produziert sie das Frauenmagazin „Annabelle“.

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