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Geschichte „German Angst“

Ich bin Deutscher, also bin ich ängstlich

Ob Atomkrieg, Waldsterben, Kernenergie oder Migration: In Deutschland werden Debatten schnell mit apokalyptischen Ängsten befeuert. Der Hang zur Übertreibung gehört wohl zu unserem Charakter.
Leitender Redakteur Geschichte
Gegen neue Atomraketen und den NATO-Doppelbeschluss demonstrierten ca. 7000 Anhaenger der Friedensbewegung anlaesslich einer Kommandeurstagung der Bundeswehr am 16.10.1982. Foto: Klaus Rose | Verwendung weltweit Gegen neue Atomraketen und den NATO-Doppelbeschluss demonstrierten ca. 7000 Anhaenger der Friedensbewegung anlaesslich einer Kommandeurstagung der Bundeswehr am 16.10.1982. Foto: Klaus Rose | Verwendung weltweit
Demonstration gegen den Nato-Doppelbeschluss 1982
Quelle: picture alliance / Klaus Rose

Ein gewisse Genervtheit war unüberlesbar. Das amerikanische „Time Magazine“ titelte am 24. August 1981 „West Germany: Moment of Angst“. Es war zwar bei Weitem nicht die erste Verwendung dieses deutschen Wortes im Englischen. Schon seit dem 19. Jahrhundert tauchte der Begriff gelegentlich auf, in übersetzten Werken des dänischen Philosophen Sören Kierkegaard etwa. Dennoch stand der „Time“-Titel für etwas Neues: für die Kritik am neuen Lebensgefühl, das die damalige Bundesrepublik bewegte, die „German Angst“.

Das Haus der Geschichte der Bundesrepublik in Bonn (HdG) befasst sich jetzt in einer neuen Wechselausstellung mit „Angst“ als einer (oder der?) „deutschen Gefühlslage“. Tatsächlich beherrschen seit mindestens vier, vielleicht auch fünf oder sogar sechs Jahrzehnten immer wieder Angstwellen die öffentliche Debatte in Deutschland – in einem Maße, wie man das aus anderen westlichen Ländern nicht kennt. Warum ist das so? Welche Folgen hat das? Und sollte man dagegen angehen? Oder vielleicht gerade nicht?

Das HdG spürt dieser Frage anhand von vier Beispielen nach – man hätte auch dreimal so viele auswählen können. Doch die Beschränkung scheint sinnvoll, denn die Mechanismen lassen sich an den gewählten Situationen gut nachvollziehen. Ausgangspunkt sind die frühen 1970er-Jahre. Denn nach dem Erwachsenwerden der ersten rein bundesrepublikanischen Generation häuften sich auf einmal emotionale Tsunamis.

Anti-Atomkraft-Demonstration beim Kernkraftwerk Gundremmingen, dem leistungsstärksten deutschen Atomkraftwerk, Gundremmingen bei Günzburg, Bayern, Deutschland, Europa | Verwendung weltweit, Keine Weitergabe an Wiederverkäufer.
Anti-Atomkraft-Demonstration beim Kernkraftwerk Gundremmingen 2016
Quelle: picture alliance / imageBROKER

Zu dieser Zeit brach die „Angst vor der Atomkraft“ mit den ersten Massenprotesten gegen den Bau weiterer Kernkraftwerke zum Beispiel im badischen Wyhl oder in Brokdorf an der Elbe über die Wirtschaftswundergesellschaft herein, die selbst durch Abschwung, Stagnation und die Gefahr des RAF-Terrors verunsichert war. Es folgte ab 1979 der Protest einer lautstarken Minderheit gegen den Nato-Doppelbeschluss und damit verbunden die Angst vor einem alles vernichtenden Atomkrieg. Das ging so weit, dass in den frühen 1980er-Jahren manche Lehrer mit ihren fünften Klassen auf antiamerikanische Demonstrationen gingen und das apokalyptische Jugendbuch „Die letzten Kinder von Schewenborn“ über die Überlebenden eines Atomschlags zum Bestseller avancierte.

Auch die irregeleitete Überlegung, mit Appeasement gegenüber dem Sowjet-Imperium könne man einen – faktisch angesichts des Gleichgewichtes durch gegenseitige Vernichtungsmöglichkeit gar nicht drohenden – Atomkrieg vermeiden, prägte mehrere Alterskohorten junger Westdeutscher. Wer zwischen 1955 und 1975 geboren ist, wurde in der einen oder anderen Form durch diese beiden öffentlich zelebrierten Angstattacken geprägt.

Unter dem Motto "Rettet den Wald" organisierte die Aktionsgruppe Umweltschutz Frankfurt eine Demonstration in der Innenstadt von Frankfurt am Main am 25.05.1984. Foto: Jörg Schmitt dpa | Verwendung weltweit
Demonstration gegen das Waldsterben in Frankfurt a. M. 1984
Quelle: picture-alliance / Jörg Schmitt

Doch dabei blieb es nicht, wie das HdG an weiteren Beispielen zeigt: Nach der Angst gleichermaßen vor der zivilen wie vor der militärischen Nutzung des Atoms folgte die Angst vor vermeintlich allgemeiner Umweltzerstörung. Sie gipfelte in der Falschnachricht vom „Waldsterben“, also dem angeblich unmittelbar bevorstehenden Aussterben fast aller Bäume in Mitteleuropa. Auch dieser Begriff ging als Lehnwort in andere Sprachen ein, unter anderem ins Französische und ins Englische.

Bekanntermaßen blieb die Katastrophe aus. Das „Waldsterben“ erwies sich als kollektiver Irrtum einer fast kompletten Disziplin, der Fortwissenschaft, und als Medien-GAU. Die Folgen waren durchaus positiv. Autos erhielten Katalysatoren, Kraftwerke Entschwefelungsanlagen.

Mehrere tausend Gegner der Volkszählung beteiligen sich am 16. Mai 1987 in Berlin an einer Demonstration gegen die statistischen Erhebungen. Stichtag für die Volkszählung 1987 ist der 25. Mai. (Zu dpa Themenpaket Volkszählung vom 20.5.1997) |
Demonstration gegen die Volkszählung 1987 in Berlin
Quelle: picture-alliance / dpa

Doch die Erfahrung des ausgebliebenen Waldsterbens bremste nicht die Bereitschaft vieler Westdeutscher, sich auch künftig in überzogenen Ängsten zu suhlen. Etwa nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl 1986: Nirgendwo war das Missverhältnis zwischen der öffentlichen Erregung und den tatsächlich drohenden Risiken größer als in der Bundesrepublik.

Ähnlich war es in Zusammenhang mit der Volkszählung, an sich einer völlig unverdächtigen statistischen Datensammlung. Gegen sie machten in den gesamten 1980er-Jahren Aktivisten mit hanebüchenen Argumenten über einen angeblich nach Allwissenheit und Allmacht strebenden Staat mobil. 1987 kam es schließlich zu verbreiteten Boykotten der nun stark reduzierten Haushaltsumfrage. Seltsamerweise haben viele Deutsche, die seinerzeit protestierten, keine Probleme damit, für Rabattkarten oder bei sozialen Medien weitaus mehr und wesentlich brisantere persönliche Daten preiszugeben.

Tschernobyl, Fukushima, Concorde, Titanic, San Francisco

Der Absturz der Concorde beendete die Ära des zivilen Überschallfluges, der Untergang der Titanic zerstörte den Mythos der Unsinkbarkeit. Tschernobyl und Fukushima erschütterten den Glauben in die Atomkraft.

Quelle: Die Welt

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Angst als dominierendes Lebensgefühl in Deutschland ist aber keineswegs auf linke und liberale Kreise beschränkt, wie man angesichts dieser Beispiele glauben könnte. Genau dieselben Mechanismen greifen bei der aktuellen Überfremdungsangst, die in absurden Vorstellungen einer geplanten oder bereits bevorstehenden „Umvolkung“ gipfeln. Die erregte Tonlage in den meisten gegenwärtigen Diskussionen über den Islam oder die weitere Entwicklung des nun vereinigten Deutschlands entspricht genau jener der Anti-Atom-Bewegung der 1970er- und 1980er-Jahre – nur eben nun politisch am rechten Rand.

Was heißt das? In anderen europäischen Staaten gibt es vergleichbare Angstwellen selten bis nie. Während in Deutschland um die Jahrtausendwende der Rinderwahn monatelang zum Dauerthema aufstieg, blieb in Großbritannien Panik aus – trotz eines Vielfachen an erkrankten Tieren und einer Reihe toter Menschen.

May 22, 2017 - Munich, Bayern, Germany - Pegida Munich marches once again threw the streets of Munich. Around 45 joined the racist march. At the end the Neo-Nazi Karl Richter held a speech |
Demonstration gegen Islamisierung in München 2017
Quelle: picture alliance / ZUMAPRESS.com

Was also ist der Grund für die besondere Neigung der Deutschen zu apokalyptischen Vorstellungen? Liegt es an der Erfahrung der Bombennächte im Zweiten Weltkrieg? Oder an jener des Erobertwerdens 1945? Beide Erklärungen überzeugen nicht, denn die Bombennächte gab es ähnlich in London, und erobert hatten Wehrmacht und SS in Hitlers Krieg gleich ein rundes Dutzend europäischer Länder – überall hausten die Besatzer weitaus schlimmer als die Siegermächte in Westdeutschland, die ja sogar Kredite für den Wiederaufbau zur Verfügung stellten.

Gründet die Lust an der Angst vielleicht in einem ominösen „Volkscharakter“ der Deutschen? Es ist nicht rassistisch, Unterschiede zwischen den verschiedenen Nationen Europas festzustellen – man erlebt sie allerorten, wenn man ins Ausland reist. Verwerflich ist hingegen, sich über die (überwiegenden, aber nie ausschließlichen) Eigenheiten anderer Völker zu amüsieren oder gar zu erheben.

Eine klare Antwort vermag die Ausstellung in Bonn nicht zu geben. Fest steht aber: Wenn es so etwas wie eine typisch deutsche Eigenschaft gibt, dann ist es die Neigung zur Übertreibung. Sie prägt Deutschlands Geschichte im 20. Jahrhundert – von der Gier nach einem eigenen „Platz an der Sonne“ im Kaiserreich über den Rassenwahn im Nationalsozialismus bis hin zur „German Angst“.

Angst. Eine deutsche Gefühlslage?“, Haus der Geschichte der Bundesrepublik, Bonn; bis 19. Mai 2019

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