WELTGo!
Journalismus neu erleben und produktiver werden
Ihr Assistent Journalismus neu erleben und produktiver werden
WELTGO! ENTDECKEN
  1. Home
  2. Debatte
  3. Kommentare
  4. Gesellschaftliche Spaltung: Zurück zur Sachlichkeit!

Meinung Weltuntergang

Die „Titanic“ kann mich wirklich mal

Demonstration für Flüchtlinge in Dortmund: Konflikte klug ausgleichen, so wie früher Demonstration für Flüchtlinge in Dortmund: Konflikte klug ausgleichen, so wie früher
Demonstration für Flüchtlinge in Dortmund: Konflikte klug ausgleichen, so wie früher
Quelle: dpa
Apokalyptisches Denken ist out. Probleme sind schließlich dazu da, dass man sie löst: Über Flüchtlinge reden, neue Parteien akzeptieren und überhaupt begreifen, dass wir weiterkommen. Wie im Parkhaus.

Ein unschuldiger Morgen. Draußen lärmen die Kinder auf dem Weg zur Schule. Das Leben ist schön. Von wegen. In der Zeitung und auf den Nachrichtenseiten im iPad wimmelt es nur so es von „Abgrund“, „Untergang“ und „Großer Knall“. Der Brexit, die Euro-Krise, die Flüchtlingskrise, die demografische Krise, der Terror und so weiter und so fort – das alles wird böse enden.

Ein Streifzug durch die Nachrichten erinnert an einen Spaziergang durch den Hydepark zum Speakers’ Corner, wo die Weltuntergangspropheten stehen und „The end is in sight“ rufen. Im Kopf verrühren sich die verschiedenen Handlungsstränge zu einem unentwirrbaren Knäuel – wie Spaghetti in einer riesigen Schüssel. Darüber liegt eine Soße aus Pessimismus, so schwer verdaulich wie englische Frühstücksbohnen.

Das Schlimme daran: Die Dinge laufen ja wirklich aus dem Ruder. Die „Titanic“-Metaphern sind nicht aus heiterem Himmel gegriffen, sondern es schwimmen da draußen tatsächlich ein paar mächtige Eisberge rum. Niemand ist gegen die Angst davor gefeit, und jeder erleidet zumindest zeitweise Panikattacken. Sollte man nicht das Ersparte in Gold anlegen?

Der Umgang mit den Problemen braucht eine Selbsttherapie

Oder ein Leben auf dem Land beginnen, so mit eigenem Gemüseanbau? Oder zumindest ein paar Vorräte anlegen für den allfälligen Blackout, wenn die Windrädchen verrückt spielen? Man ist regelrecht froh um die Fußball-Europameisterschaft, wahlweise die Reiseseite und den Autotest (aber bitte kein Bentley oder Volkswagen-Diesel, auch da doomt es unter der Haube). Aber so wird sich das Problem ja nicht wirklich lösen.

Es muss also so etwas wie eine Selbsttherapie her, nicht für die Probleme, sondern für den eigenen Umgang damit. Glücklich sind die Gläubigen jeglicher Fraktion, sie können einfach beten und glauben. Für die anderen bleibt zunächst einmal die gute alte Verdrängung. Die funktioniert aber nur zeitweise, die Eisberge, die da am Horizont entlangschippern, sind einfach zu groß. Auch die Frohmutsphrasen („Wir schaffen das“) sind von begrenzter Wirksamkeit, die Eisberge lassen sich davon überhaupt nicht beeindrucken.

Das sagen die Deutschen zu Merkels Flüchtlings-Auftritt

Nach Angela Merkels Besuch bei Anne Will ist die Reaktion in der Bevölkerung gespalten. Eine Aussage lautete: „Ich hoffe, dass sie weiß, was sie tut. Ich habe den Überblick nicht.“

Quelle: Die Welt

Versuchen wir es also einmal mit unserer bisherigen Lebenserfahrung – also mit dem Rückgriff auf die diversen Weltuntergänge, die wir in den letzten 50 Jahren überstanden haben. Als älteres Semester erinnert man sich beispielsweise an die Klimakatastrophenvorhersagen. Der Kölner Dom müsste längst von der Flut verschlungen sein („Spiegel“-Titelbild 1986).

Es gab schon viele vermeintliche Apokalypsen

Wahlweise müsste der Müll bis zum obersten Sims der Türme stehen, der Müllnotstand war seinerzeit ein weiteres apokalyptisches Zeichen. Waldsterben, Robbensterben, Korallensterben, Mangrovensterben, Vogelsterben, Insektensterben: Das alles schien unausweichlich. Und war nur ein laues Lüftchen im Vergleich zur atomaren Apokalypse, die durch die Nachrüstung mit den Pershings unmittelbar bevorzustehen schien.

Etwas später ging es dann schon um Europa, etwa als die Schweiz den Beitritt zum EWR ablehnte – und viele Eidgenossen samt der EU-Nomenklatura darob vom Untergang der Eidgenossenschaft überzeugt waren. Auch 2008, als die Isländer ihre Banken pleitegehen ließen und in der Folge der EU endgültig „bless“ sagten, schien es kein Morgen mehr zu geben. Doch die Sonne ging wieder über dem Matterhorn auf und die kalten Fluten des Atlantik weigerten sich, Island zu verschlingen. Ganz im Gegenteil: Den einsamen Kleinen geht es ziemlich gut. Wie sagt der Kölner so schön: „Et hätt noch emmer joot jonge.“

Das lag zunächst einmal daran, dass der Lauf der Welt sich nicht an die Katastrophenszenarien der menschlichen Expertise zu halten pflegt. Das ist allerdings nur ein schwacher Trost, weil das in beide Richtungen funktioniert. Das Schicksal erwischt uns stattdessen gerne auf dem falschen Fuß, also mit etwas Unerwartetem, das im Kleingedruckten der Versicherungspolice nicht berücksichtigt wurde.

Fatalismus hat einen schlechten Ruf

Anzeige

Schuhmacher fuhr Formel 1-Rennen und verunglückte bei einem profanen Skiausflug. Statt der Atomsprengköpfe ging Tschernobyl in die Luft. Zum Glück kriegt man vor etwas, mit dem man nicht rechnet, keine Panik. Bis zum Eintreten des Schadens lebte man also glücklich und zufrieden. Das ist doch schon mal was.

Fatalismus hat einen schlechten Ruf, fördert aber unter Umständen die Gesundheit. Nun sind die meisten Menschen keine Fatalisten, sondern wollen etwas gegen die Dinge tun, die ihrer Meinung nach schieflaufen. Die Müllberge sind uns ja nur deshalb nicht über den Kopf gewachsen, weil alle möglichen Maßnahmen dagegen ergriffen wurden.

Einige davon müssen tatsächlich sinnvoll gewesen sein, weil sie ja gewirkt haben. Andere waren teurer Blödsinn. Unter dem Strich ist die Bilanz dennoch positiv. Das ist ja nix Neues, man nennt es Versuch und Irrtum, und es spricht nichts dagegen, dass diese Methode auch in der Evolution der europäischen Gemeinschaft funktionieren könnte.

Einfache Fragen verhelfen neuen Ideen zum Durchbruch

Nicolas Hayek, Schweizer Vorzeigeunternehmer und Enfant terrible der Zunft, verlangte immer, den Bossen zu sagen: „Du bist der liebe Gott, aber du hast nicht recht.“ Einfache Fragen, gepaart mit einer gewissen Naivität, innerer Unabhängigkeit und Mut, verhelfe neuen Ideen zum Durchbruch.

Hayek setzte in den 80er-Jahren das für die Schweiz revolutionäre Konzept der elektronischen Qualitätsuhr durch, rettete die Schweizer Uhrenindustrie und etablierte die Weltmarke Swatch. Warum sollten ein paar einfache Fragen und innere Unabhängigkeit nicht auch der europäischen Idee zu einer neuen Blüte verhelfen? Und warum sollten die Fragen, die die Briten jetzt gestellt haben, dabei nicht hilfreich sein?

Und könnte es nicht auch sein, dass die Fragen, welche die Menschen in Deutschland beispielsweise zur Zuwanderung stellen, dazu führen, diese Entwicklung auf eine verträglichere und solidere Basis zu stellen? Gut, Fehler werden gemacht, aber es ist doch nicht zu spät, daraus zu lernen. Versuch und Irrtum ist die Mutter allen Fortschritts. Nach Schumpeter baut jede wirtschaftliche Entwicklung auf einer schöpferischen und kreativen Zerstörung des Alten auf. Warum sollte dieser Gedanke nicht auch für Institutionen und Gesellschaften gelten?

Das Getöse um die Lügenpresse kann Prozesse in Gang setzen

Wer Teil des Medienbetriebes ist, kann das doch tagtäglich am eigenen Leibe erfahren. Das Getöse um die Lügenpresse nagt im Inneren aller Beteiligten viel tiefer, als sie jemals zugeben würden. Ob berechtigt oder nicht, ist zunächst mal vollkommen egal. Auf jeden Fall sind Selbstzweifel keine schlechte Sache. Und die Auseinandersetzung hat doch längst auch eine schöpferische und kreative Seite.

Anzeige

Es werden neue Formen der öffentlichen Kommunikation entstehen, und es werden neue Medien entstehen, das ist doch alles längst im Gange. Noch kein einziges Weltreich hat mehr als 10.000 Jahre überstanden, warum sollte das ausgerechnet mit dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk so sein? Wer sagt denn, dass die Bilanz am Ende nicht durchaus positiv sein könnte (siehe oben, Müllberg)?

Das Gleiche gilt für die Zerstörung der tradierten Parteienlandschaft, die doch nicht gleichbedeutend mit einer Zerstörung der demokratischen Verfasstheit dieses Landes sein muss. Parteien wie die AfD sind möglicherweise der Sprengstoff, der das alte Gebäude in die Luft jagt. Aber wer hindert uns daran, an seine Stelle ein neues und besseres zu setzen?

Gefragt ist Pragmatismus statt Ideologie

Parteien bündeln die Interessen der Wähler – warum sollen sich da nicht neue Gemeinschaften zusammenfinden, in denen die Menschen sich wohler und besser repräsentiert fühlen? Wer die regionale Politik in Deutschland beobachtet, sieht in Städten und Gemeinden doch längst solche neuen Schnittmengen jenseits der traditionellen Lager, weil Pragmatismus und nicht Ideologie gefragt ist.

„Politische Korrektheit macht die AfD nur stärker“

Reiner Haseloff, der Regierungschef von Sachsen-Anhalt, fordert einen Kurswechsel der Bundes-CDU. Er verlangt, den „rechten demokratischen Rand zurückzugewinnen“.

Quelle: Die Welt

Deutschland hat wirtschaftlich jahrzehntelang von seiner Fähigkeit profitiert, Konflikte relativ klug auszugleichen. Warum sollte das nicht auch für den inneren Frieden des Landes eine gute Voraussetzung sein? Wer sagt denn, dass die gegenwärtige Flüchtlingskrise und die von ihr ausgelöste massive Konfrontation von Befürwortern und Kritikern nicht letzten Endes zu einer offeneren, ehrlicheren und vom Ballast des Moralisierens und Diffamierens befreiten Debatte führt? Die Daumenschraube „du bist rechts“ ist doch schon komplett verschlissen.

Man sollte die Hoffnung nicht aufgeben, dass die Deutschen zu einer vernünftigen Vereinbarung darüber fähig sind, welche Zuwanderung sie wünschen und welche nicht. Das wäre ja nicht zuletzt im Interesse derjenigen, die zu uns kommen, weil es ihnen nicht nur Rechtssicherheit, sondern auch gesellschaftlichen Rückhalt gibt.

Das kleine Israel könnte ein gutes Vorbild für uns sein

Diejenigen, die sich schon aufgrund der demografischen Zahlen vor einer gleichsam naturgesetzlichen „Überflutung“ aus Arabien und Afrika fürchten, müssen – um die Hoffnung nicht fahren zu lassen – eigentlich nur auf ein kleines Land in Nahost schauen: Israel. Dort beweist ein vergleichbar winziges Land, dass man in einer brodelnden Umgebung dennoch Demokratie und westliche Werte hochhalten kann.

Warum sollte Europa und Deutschland das nicht hinkriegen? Man muss es allerdings wollen und können. Dieses Wollen und Können ist der kreative und schöpferische Teil. Um damit anfangen zu können, muss man sich zunächst ehrlich machen (um es Neudeutsch auszudrücken). Wunschdenken hatten wir jetzt lang genug, irgendwann geht jedem fliegenden Teppich der Sprit aus.

Vielleicht leben wir in apokalyptischen Zeiten, niemand kann es ausschließen. Mit Sicherheit aber leben wir in einer interessanten und aufregenden Zeit des Umbruches. Langweilig wird es garantiert nicht. Im Gespräch mit ehemaligen Bürgern der DDR erzählen die oft, dass sie die gegenwärtige Lage in Deutschland an die letzten Jahre vor dem Zusammenbruch des Sozialismus erinnert. Und dann fügen sie hinzu: „Aber wir hatten wenigstens den Westen vor Augen, also etwas Besseres am Horizont.“ Und dann fragen sie ratlos: „Aber wo ist hier und heute das Rettende, wo ist jetzt der ‚Westen‘?“

Das Parkhaus, in dem es immer höher hinaus geht

Es gibt ein sehr schönes Bild, um den oft sprunghaften Verlauf technischer und wissenschaftlicher Revolutionen zu veranschaulichen. Man stelle sich ein Parkhaus vor, in dem die unterste Etage besetzt ist. Der Druck auf den Parkraum sucht ein Ventil.

Und das ist die spindelförmige Auffahrt in der Mitte. Sobald diese entdeckt ist, wird die zweite Etage mit ihren neuen Möglichkeiten besiedelt. Und wenn es da keine Möglichkeiten mehr gibt, geht das ganze Spiel von vorne los. Der Fortschritt spielt sich gleichsam in der Spindel ab. Sie ist die Verbindung zwischen einer niedrigeren und einer höheren technischen Ebene.

Vielleicht ist dieses Bild ja auch für die gesellschaftliche und politische Situation Europas und Deutschlands hilfreich. Vielleicht sollte man Europa nicht als sinkendes Schiff, sondern als Parkhaus sehen, in dem es einen Weg zu einer Höherentwicklung gibt. Apokalyptisches Denken wird uns nicht dabei helfen, ihn zu finden.

Der Autor (63) war Chefredakteur der Zeitschrift natur, der zu dieser Zeit größten europäischen Umweltzeitschrift. Heute ist er Mitherausgeber des publizistischen Netzwerks „Die Achse des Guten“ und Chefredakteur der Zeitschrift Neugier.de.

"Wir können in Europa nicht einfach so weitermachen"

Die Kampagne der Brexit-Befürworter in Großbritannien ging ziemlich in die Hose. Nun versuchen sich alle in Schadensbegrenzung. In der Kritik steht aber auch Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker.

Quelle: Die Welt

Mehr aus dem Web
Neues aus der Redaktion
Auch interessant
Mehr zum Thema