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Meinung Italien-Fluch

Es wird Zeit für das Ende eines Fußball-Traumas

„Italien hat die älteste, wir die jüngste Mannschaft“

Im Viertelfinale der EM in Frankreich wartet Italien auf die DFB-Auswahl. Um den Titel zu erlangen, muss Weltmeister Deutschland endlich seinen Italien-Fluch besiegen. Der Bundestrainer freut sich schon.

Quelle: Die Welt

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Zum Wesen eines Angstgegners gehört es, dass er einem mit der Zeit immer gewaltiger vorkommt. Die deutsche Angst vor italienischen Fußballern ist nahezu unerträglich. Es wird Zeit, sie zu besiegen.

Ein Angstgegner ist ein Albtraum. Wir wissen das spätestens seit der EM 2012, als Bundestrainer Joachim Löw seine Männer und das ganze Land vor dem Halbfinale mit einem Augenflackern, einem Pfeifen im Wald und dem zittrigen Satz beruhigte:  „Die Zeit ist gekommen, um Italien zu besiegen.“

Die Vorfreude war verfrüht.

BAU // Fussball / Herren / FIFA WM Weltmeisterschaft 2006 / Deutschland - Italien : 1: 0 von Fabio Grosso ( ITA ) copyright by Pressefoto Baumann D-71638 Ludwigsburg Königsallee 43 Telefon 07141 440087 Fax 07141 440088 KSK Ludwigsburg (60450050) Konto Nr. 58014 email: pressefotobaumann@gmx.de | Verwendung weltweit
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Quelle: pa/Pressefoto Ba/Pressefoto Baumann

Kein anständiger Deutscher wird je dieses schaurige Bild von Warschau verkraften: Mario Balotelli riss sich nach seinem Doppelpack das Trikot vom Waschbrettbauch, ließ die Muskeln hüpfen und ballte seine zwei Fäuste derart vor der Lende, dass sie aussahen wie Straußen-Eier aus Keramik. Jeder dachte spontan an Olli Kahn ("Eier musst du haben, Eier!"), und Balotelli sah aus, als ob er drei davon hat.

Italien – oh, nein.

Diesmal schon im Viertelfinale. Das ist nicht das, was der durchschnittlich veranlagte Deutsche als das höchste aller Glücksgefühle empfindet, und es ist auch kein Trost, dass Jogi Löw immer mal wieder geschworen hat: „Der Tag rückt näher, an dem wir Italien auch in einem großen Turnier besiegen.“ Der Tag wird kommen - aber werden ihn unsere Enkel noch erleben?

„Italia hätte verloren im Elfmeterschießen“

Schon Sepp Herberger, der erste Bundestrainer, wollte ihn erleben, und sein 0:0 bei der WM 1962 war immerhin das Beste, was uns jemals gelungen ist, auf Augenhöhe mit dem 0:0 bei der WM 1978 und dem 0:0 bei der EM 1996. Mehr war nicht zu holen - und seit dem 2:0 der Italiener gegen die Spanier am Montag, hört man, schaut Jogi Löw vor dem Einschlafen sicherheitshalber unters Bett.

Er hat schon das Drama von Dortmund mitgemacht. Dort, im  WM-Halbfinale 2006, hat der Blitz aus azurblauem Himmel besonders abscheulich eingeschlagen und unseren Traum vom Happyend des Sommermärchens jäh beerdigt - man ist ja als Journalist zur Distanz verpflichtet, aber in jener Schlussminute der Verlängerung habe ich auf der Tribüne die Augen geschlossen und mich verzweifelt gefragt, welche höhere Gewalt da nun schon im zweiten Jahrhundert auf unsere Kosten diese Azurris küsst. Tags darauf war ich bei meinem Lieblingsitaliener im „Dolce Vita“, und der Wirt versicherte mir im Rahmen des Beileids: „Italia hätte verloren Elfmeterschießen.“

Danke. Das ist der gönnerhafte Trost, der uns gerade noch fehlt zu unserem Dauerglück mit den Italienern, die als ewiger Stachel in uns stecken – als Stimmungstöter bei unseren tollsten Jahrhundertspielen und Sargnagel unserer schönsten Träume.

Gerd Müller (2. von rechts) beim legendären Spiel gegen Italien bei der WM in Mexiko
Gerd Müller (2. von rechts) beim legendären Spiel gegen Italien bei der WM in Mexiko
Quelle: pa/dpa

1970 ging der Fluch los. Halbfinale, WM in Mexiko. Noch heute steht auf einer Gedenktafel im Aztekenstadion: „17 junio 1970. Italia – Alemania. Juego del siglo.“ Das Spiel des Jahrhunderts. Boninsegnas 0:1 war dank des Ausgleichs durch Schnellinger gerade noch auszuhalten, aber in der Verlängerung griff sich mein Vater im Fernsehsessel  ans Herz und sagte: „Ich muss ins Bett.“ Auch dort ließ das Infarktrisiko nicht nach, dank des unaufhörlichen Stakkatos der Jubelschreie von den Nachbarbalkonen: „I-ta-lia-a!“ 2:1 Müller. 2:2 Burgnich. 2:3 Riva. 3:3 Müller.

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3:4 Rivera.

Gianni Rivera war ein wunderbarer Fußballer, aber dieses Tor war noch fürchterlicher als der Schiedsrichter. Arturo Yamasaki hieß dieser Schlawiner, der uns zirka drei Elfmeter verweigerte. Wenigstens halbwegs darüber hinweggetröstet hat uns Jahre später der herrliche TV-Spot, den Olli (“Dittsche”) Dittrich für eine Elektronikfirma drehte. Dittsche verkörperte darin einen italienischen Toni, wie der normal veranlagte Fußballdeutsche ihn sich vorstellt, dicke Goldkette, Sonnenbrille,  offenes Hemd, einen Eimer Gel im Haar und immer einen cleveren Spruch auf den Lippen, und Toni lachte uns Deutsche dafür aus, dass wir uns für den Fußball Flachbildschirme kaufen. „Was kaufen die Italiener?”, grinste Toni. „Sie kaufen die Schiedsrichter.”

Wenigstens da ist uns das Lachen einmal nicht vergangen.

Ansonsten immer. 1971 war Roberto Boninsegna schon wieder präsent, diesmal in jener traurigtollen Europacupnacht, in der sich Günter Netzer als „King vom Bökelberg” die Krone aufsetzte und das Spiel seines Lebens machte. Die Gladbacher schossen den amtierenden Weltpokalsieger Inter Mailand mit 7:1 aus den Schuhen – nur ein Ausfall des Flutlichts hätte die Italiener retten können.

Oder der Wurf einer Cola-Dose.

Der Lagerarbeiter Manfred K. feuerte sie ab, an den Kopf von Boninsegna, der gerade einen Einwurf machte. Andere schwören, die Büchse habe seinen Rücken gestreift. Die Dose war auf jeden Fall leer, und die Wirkung erstaunlich: Wie von der Axt getroffen fiel Boninsegna um. Sieben Minuten lag er regungslos da, so dass ein Priester für die letzte Ölung unumgänglich schien, und auf der Bahre hat man den Mausetoten dann hinausgetragen.

Der Büchsenwerfer von Mönchengladbach wird abgeführt
Der Büchsenwerfer von Mönchengladbach wird abgeführt
Quelle: pa/Sven Simon

Der holländische Schiedsrichter Jef  Dorpmans verriet später: „Es gab eine Menge Italiener damals in den Uefa-Gremien.” Jedenfalls wurde das 7:1 am grünen Tisch annulliert, Gladbach flog raus, und das übelste Schimpfwort im deutschen Fußball ist seither nicht Schauspieler oder Spitzbube, sondern Boninsegna.

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Es wurde danach nicht besser. Unaufhaltsam nahm das deutsche Unwohlsein bei den wichtigen Spielen gegen die Italiener Tempo auf, und ganz schnell hinter mich bringen will ich das einseitigste aller WM-Endspiele, anno 1982 in Madrid – als Deutsche haben wir uns auf der Tribüne des Bernabeustadions sicherheitshalber gar nicht mehr zu erkennen gegeben, und da war es schon wieder, dieses ohrenbetäubende und die Seele zermürbende Geräusch: „I-ta-li-a!“

Zum Wesen eines Angstgegners gehört es, dass er einem mit der Zeit immer größer und gewaltiger vorkommt, bis man sich irgendwann fragt, ob Gegenwehr überhaupt noch Sinn macht. Sie wurde grässlich, diese Angst vor Italia.

Nur Fritz Walter verstand die Angst nie

Der Einzige, der das partout nie verstand, war Fritz Walter, der WM-Kapitän unserer 54er-Helden von Bern. Angst vor Italia? Da hat er nur gelacht und gesagt: „Man muss sich nur trauen." So wie er, als er vor einem Altar in Kaiserslautern der gutaussehenden Italia Bortoluzzi das Jawort gab, obwohl die ganze Pfalz angesichts der feurigen Italienerin tuschelte: „De schwarz Hex mit de rot Fingernägel, hoffentlich macht se de Fritz net fertig.“ In Wahrheit hat Italia unseren alten Fritz erst so richtig in Fahrt gebracht, und kurz danach waren wir Weltmeister. Aber 2002 ist Fritz Walter dann gestorben, keiner hat mehr auf ihn gehört, und die Dramen gingen weiter. Dortmund 2006. Warschau 2012.

„Hört dieser Fluch nie auf?", fragten plötzlich sogar kopfschüttelnd die Leitartikler im Land, die sich normalerweise um den Weltfrieden sorgen. Und sie fanden die Erklärung: Der Fußballgott ist Italiener - wir Deutschen waren nur mal kurz Papst, und das reicht offenbar nicht.

Die Italiener begannen mittlerweile, ihre Dauersiege gegen uns lauthals auszukosten, und wir begriffen langsam, wie lausig die Engländer sich ungefähr fühlen, die gegen uns nie gewinnen. So wie wir Deutschen derbe Witze über elfmeterschießende Engländer erzählen, hatten die Italiener ihren wachsenden Spaß mit uns. Balotelli, der Triumphator von Warschau, spielte anschließend in Kickstiefeln, in die der Gruß graviert war: "Bye, Bye Germany!"

Suarez biss die Italiener 2014 raus

Hört das nie auf? Ahnen die Spanier auch nur entfernt, was sie uns da angetan haben mit ihrer Niederlage gegen Italien? Ach, waren wir immer erleichtert, wenn uns einer die Italiener vom Hals geschafft hat. In Brasilien beispielsweise, bei der letzten WM. Im Pressezentrum saßen wir damals vor dem Bildschirm, als der Uruguayer Luis Suarez dankenswerter Weise seinen Gegenspieler Chiellini in die Schulter und die Italiener aus dem Turnier biss, und beim Schlusspfiff rief der Hannoveraner Journalisten-Veteran Jochen Zwingmann, der auch sein Leben lang unter den Italienern gelitten hat, wie von einer Zentnerlast befreit durch den Saal: „Jetzt können wir Weltmeister werden!"

Aber wie sollen wir nun Europameister werden?

In unseren deutschen Köpfen muss viel Aufbauarbeit geleistet werden bis Samstag, und bei der Mannschaft sowieso. Aber die hat als Therapeuten wenigstens Andy Köpke. Maßgeblich war der Bundestorwarttrainer am letzten unserer drei größten Erfolge gegen die Italiener beteiligt, dem 0:0 bei der EM 1996, mirakulös parierte er im deutschen Kasten seinerzeit in der Vorrunde, als es um Alles oder Nichts ging, einen Elfmeter von Gianfranco Zola, die Italiener waren draußen, wir wurden Europameister - und an dem Punkt könnte unser Italien-Trauma theoretisch mit dem psychologischen Kunstkniff  aus der Welt geschafft werden: War das nicht in Wahrheit ein Sieg?

Gibt es diesen Fluch also gar nicht? Ist er eine Erfindung der Medien und der Italiener, um uns kirre zu machen? Ist der Tag, von dem Jogi Löw spricht, viel näher, als wir alle denken? Ist es womöglich schon der Samstag?

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