Urserntal statt Unterwalden? Bundesbrief gibt Rätsel auf

Experten sind sich uneinig, wie das Original des Bundesbriefs übersetzt werden muss. Eine Auslegeordnung.

Lucien Rahm
Drucken
Der Bundesbrief von 1291, der auch erst 1309 entstanden sein könnte.Bild: Boris Bürgisser (Schwyz, 16. Juli 2016)

Der Bundesbrief von 1291, der auch erst 1309 entstanden sein könnte.Bild: Boris Bürgisser (Schwyz, 16. Juli 2016)

Ihr 728-jähriges Bestehen ist Anfang Monat gefeiert worden. Das «Geburtsjahr» der Schweiz – 1291 – geht bekanntlich zurück auf das Bündnis der drei Talschaften Uri, Schwyz und Unterwalden, das damals geschlossen worden sein soll. Allerdings: Ob im Bundesbrief, der den Zusammenschluss in lateinischer Sprache beschreibt, tatsächlich Unterwalden gemeint ist, scheint unter Historikern umstritten. Zutreffen könnte die Beschreibung nämlich auch auf das Urserntal.

«Die lateinische, aber auch die im 15. Jahrhundert übersetzte Textstelle, die den dritten Bündnispartner nach Schwyz und Uri nennt, mit Nidwalden oder Unterwalden gleichzusetzen, ist aus verschiedenen Gründen fragwürdig», sagte der inzwischen verstorbene Schweizer Historiker Roger Sablonier bereits vor elf Jahren gegenüber unserer Zeitung. Die betreffende Stelle lautet «communitas hominum Intramontanorum Vallis Inferioris» – was übersetzt so viel heisst wie «die Gemeinschaft der Menschen in den Bergen des unteren Tals». Laut Sablonier könnte diese Beschreibung ebenso gut auf Ursern zutreffen.

Sinn machen würde dies auch, da Ursern zu jener Zeit eine wichtige Bedeutung gehabt habe. «Ursern hatte eine Schlüsselposition im Nord-Süd-Verkehr. Wer im Urserntal war, hatte nicht nur die Kontrolle über den Gotthardpass, sondern auch über die Zugänge vom Wallis und vom Bündnerland», so Sablonier.

Auch Simon Teuscher, Professor für allgemeine Geschichte des Mittelalters an der Uni Zürich, findet die Theorie nicht abwegig. «Ich glaube, dass sich auf dem jetzigen Kenntnisstand weder die Hypothese mit Ursern noch jene mit Unterwalden abschliessend beweisen lassen.» Ein 1291 mit dem Urserntal dürfe man zumindest für denkbar halten.

Bundesbrief könnte erst 1309 erstellt worden sein

In seinem Buch «Gründungszeit ohne Eidgenossen» führt Sablonier überdies aus, dass der als Gründungsdokument der Eidgenossenschaft gehandelte Bundesbrief von 1291 wahrscheinlich eher aus dem Jahr 1309 stammt. Dafür sprächen die unruhigen politischen Umstände jener Zeit, in die das Dokument viel besser passen würde, als in jene um 1291. Im Jahr 1308 wurde der bis dahin herrschende deutsch-römische König Albrecht ermordet, im Surenengebiet waren alte Grenzkonflikte wieder aktuell, und auf dem Vierwaldstättersee kam es zu Auseinandersetzungen zwischen der Stadt Luzern und den Ursern. Daran sollen auch die damaligen Urner beteiligt gewesen sein. Streitpunkte waren laut Sablonier Zölle und der freie Zugang zum Gotthardtransit.

Angesichts dieser und anderer politischer Auseinandersetzungen wäre es «verständlich, dass die Waldstätte ihre Friedensfähigkeit» gegenüber Albrechts Nachfolger, König Heinrich VII., «mit einer Landfriedensvereinbarung unter Beweis stellen mussten», schreibt Sablonier. Und dies wäre dann eben mit dem Bundesbrief von 1309 geschehen.

«Sehr seltsame Tatsache» im Morgartenbrief

Doch warum wurde das Dokument dann auf 1291 zurückdatiert? Einen möglichen Grund sieht der Historiker im in jenem Jahr erfolgten Tod des römisch-deutschen Königs Rudolf von Habsburg, dem Vorvorgänger König Albrechts. Rudolf verlieh Schwyz und anderen Orten 1291 das Recht, ihre eigenen Richter zu bestimmen. Gegenüber dem neuen König Heinrich wollten die Waldstätte Uri, Schwyz und Unterwalden (oder eben Ursern) mit der Rückdatierung womöglich auf ihre Sonderrechte aus der habsburgischen Zeit hinweisen. Womöglich habe es 1291 aber auch ein Vorbündnis gegeben, das 1309 erneuert wurde.

Definitiv Erwähnung findet Unterwalden jedoch im Bundesbrief von 1315, dem sogenannten Morgartenbrief. In diesem ist ebenfalls ein Bündnis mit Uri und Schwyz festgehalten. Als «sehr seltsame Tatsache» bezeichnet Sablonier, dass der Bundesbrief von 1291 (respektive 1309) im Morgartenbrief keine Erwähnung findet. Das spräche wiederum für Ursern als Bündnispartner im 1291er-Brief.

Siegel wurde womöglich ersetzt

Dennoch hängt an letzterem ein Siegel mit dem Unterwaldner Schlüsselwappen. Hierzu hält Sablonier fest: «Siegel sind häufig ersetzt oder gar gefälscht worden.» Solche ab- oder umzuhängen, sei damals in Europa recht verbreitet gewesen und nicht in jedem Fall als Delikt empfunden worden, sagt Simon Teuscher. «Wer dies tat, verstand dies unter Umständen als notwendige Anpassung eines alten Vertrags an veränderte Bedingungen.» Es könne durchaus einmal einen Bund mit den Ursern gegebenen haben, dessen Spuren in späterer Zeit systematisch verwischt worden seien. Dies, «weil man unterdessen eine andere Geschichte für nützlich hielt, eben zum Beispiel eine mit Unterwalden», so Teuscher. Denn spätestens ab dem Morgartenbrief handelte es sich um einen Bund zwischen Uri, Schwyz und Unterwalden. «Und man fing an, die Geschichte so zu erzählen, als wäre das nie anders gewesen.»

Nichts von Sabloniers These hält der Urner Historiker Hans Stadler. So entgegnet er zum Beispiel der Nichtnennung des 1291er-Bündnisses im Morgartenbrief: «Das Nichterwähnen früherer Briefe bei deren Neuformulierung und Erweiterung kann auch in anderen Urkunden gesehen werden» – auch wenn es sich dabei um die gleichen Bündnispartner handelte. In «beachtlichen Teilen» der Bundesbriefe von 1291 und 1315 bestehe zudem eine inhaltliche Kontinuität. «Das erlaubt doch anzunehmen, dass die Bündnispartner von 1291 und 1315 die gleichen waren.»