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Mamablog: Besondere MomenteWer keine Fotos macht, hat mehr vom Leben

Räbeliechtli-Umzug: Die Schweizer Tradition fällt dieses Jahr dem Coronavirus zum Opfer. Doch zumindest das Schitzen liessen sich viele Schulen nicht nehmen.

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Bleich und vorwurfsvoll stehen auf unserem Küchentisch zwei geschnitzte Räben. So schief und verschrumpelt, als wäre die Beleidigung, dieses Jahr nicht ausgeführt zu werden, zu schwer für ihre kleinen Räbenschultern. Denn natürlich findet unser Räbeliechtliumzug dieses Jahr nicht statt. Warum, wissen wir alle. Geschnitzt wurde das Gemüse in der Schule erfreulicherweise aber trotzdem.

Handyblitze erleuchten die Strassen

Doch ihr verlorenes Aussehen lässt mich an den Räbeliechtliumzug vom letzten Jahr zurückdenken, dem ich wegen Grippe – ja, so was Profanes gab es damals noch – leider fernbleiben musste. Ich bedauerte dies damals sehr, denn es ist jedes Mal ergreifend, wenn im ganzen Quartier die Laternen erlöschen und Hunderte von Räbenlichtern die Strassen erhellen.

Doch als 2019 die Kinder von diesem doch immer so eindrücklichen Umzug heimkehrten und ich im Fieber «Wie isch gsi?» krächzte, erstaunten mich ihre Antworten doch sehr.

«Doof!», rief die Tochter.

«Furchtbar!», motzte der Sohn, was mich verdutzt «Hä? Warum denn das?» krächzen liess.

«Wir konnten es überhaupt nicht geniessen. Dauernd blitzten Handys, weil alle Erwachsenen Fotos schossen! Wir haben das Leuchten der Räben kaum gesehen, weil es rundherum so hell war! Da hätte man ja gleich die Laternen brennen lassen können», maulten die Kinder, ganz ungewohnt einer Meinung.

Ihre Ausführungen mögen leicht übertrieben sein, doch ich wusste, was sie meinen. Bildlich konnte ich mir vorstellen, wie all die Eltern am Strassenrand standen, um jedes Mal, wenn der Augapfel mit seiner Räbe vorbeilief, «Huhu! Pamela! Lug mal zu mir!» zu rufen, um dann schnell 10 bis 50 Fotos von ihrem äusserst schnitzbegabten Kind («D’ Pamela hed im Fall es Einhorn gschnitzt! Ganz ellei!») zu schiessen. Bilder, die höchstwahrscheinlich nie mehr einer betrachten wird.

Zauber des Augenblicks

Und obwohl wir es ja einmal mehr furchtbar gut mit unseren Kindern meinen, ihnen eine Erinnerung bieten wollen, nehmen wir ihnen mit unserer ständigen Knipserei etwas Zentrales weg. Nämlich einfach nur Teil ihrer Welt zu sein. Mit jedem Klick reissen wir sie und uns aus dieser Welt heraus – machen die Kinder zu Models und uns zu Fotografen. Wir berauben uns des Zaubers des Augenblicks, indem wir den Moment festhalten, und verunmöglichen damit sein Erleben und uns wirklich auf ihn einzulassen.

Durch den ständigen Griff zur Kamera verpassen wir es, unsere eigenen Gefühle wahrzunehmen.

Durch den ständigen Griff zur Kamera verpassen wir es sogar, unsere eigenen Gefühle wahrzunehmen. Bemerken nicht, wie der Wind über unsere Haut streicht. Verpassen das Schaudern einer Stimmung, die so viel eindrücklicher ist als Pamelas Einhorn. Uns entgeht das Ganze, denn wir konsumieren nur Ausschnitte und verhindern mit dem Dauergeknipse, dass irgendwo zwischen ein paar Atemzügen genau das entstehen könnte, was uns kein Bild der Welt je zu geben vermag: Eine Ergriffenheit, die durch unser Herz direkt in das unserer Kinder führt.

Erklimmen wir einen Gipfel, wird noch vor dem Absetzen des Fusses auf dem Grat das Handy für ein Selfie gezückt. Und wer an einem Traumstand liegt, kann dem Drang nur schwer widerstehen, der Welt durch ein hübsches Bild mitzuteilen, dass er soeben das grosse Los gezogen hat. Als wüssten wir erst wieder, wer wir sind, wenn unser Leben archiviert und gelikt ist.

Handylos beim Schulritual

Auch ich liebe Fotos. Sehr sogar. Und wahrscheinlich wäre mir die ganze Knips-Problematik gar nie aufgefallen, hätte mein Handy nicht just vor dem Schulhauswechsels unseres Sohnes Suizid begangen. So stand ich beim Abschiedsritual in der alten Schule ungewohnt handylos da, schaute dem Geschehen selten berührt zu und verdrückte in Ruhe ein paar Tränen. Ich erlebte eine Flut von Gefühlen, wie ich sie an Anlässen mit Handy im Anschlag nie verspürte hatte. Weil ich dieses sonst jedes Mal gezückt hatte, wenn ich besonders bewegt war, um den Moment festzuhalten. Damit aber meine Emotionen abwürgte und sie in die Tupperware-Dose mit der Beschriftung «Besonderer Moment» schickte – welcher mir zeitgleich entglitt.

Besser, als jeden besonderen Moment festhalten zu wollen, ist, ihn einfach zu geniessen.

Bei jenem handylosen Schulritual hingegen wurde ich aus meinem sentimentalen Trip nur dann herausgerissen, wenn sich wieder ein Erwachsener nach vorne drängte, um die beste Knips-Position zu ergattern. Für einmal nicht zu ihnen gehörend, wurde ich richtig sauer über diese Unruhe, die jegliche Feierlichkeit im Keim erstickte und mich vom Geschehen ablenkte.

Erleben in einer eingefrorenen Zeit

Darum verstehe ich durchaus, was meine Kinder damals nach dem Umzug 2019 meinten. Und vielleicht sind die Räben auf unserem Tisch ja auch durchaus glücklich, nicht wie ihre Vorfahren, die Verbrennungen von Blitzlichtern eifriger Eltern auf ihrer blassen Haut erdulden mussten. Meine Kinder und ich werden die Räben jedenfalls auch 2020 gebührend ausführen. Irgendwo im dunklen Park. Ohne Handy, ohne Erinnerungsfoto. Denn ich bin sicher, dass sich so ein wirkliches Bild in uns einprägen kann. Eines, das unser Erleben nicht unterbrechen wird. Eines, das kein Rechner dieser Welt verschlucken und auf einen Ausschnitt reduzieren kann.

Und echtes Erleben brauchen wir in dieser seltsam eingefrorenen Zeit alle dringender denn je.

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