Zum Inhalt springen
Sara Weber

Präsentismus Unsere kranke Arbeitsmoral

Sara Weber
Eine Kolumne von Sara Weber
Trotz Krankheit zu arbeiten ist für viele normal, erst recht im Homeoffice. Gerade junge Menschen gönnen sich keine Erholung. Ein großer Fehler – denn am Ende profitieren weder Arbeitnehmer noch Unternehmen.
Arbeit trotz Krankheit: Risiken für Arbeitnehmende, Teams und Unternehmen (Symbolbild)

Arbeit trotz Krankheit: Risiken für Arbeitnehmende, Teams und Unternehmen (Symbolbild)

Foto: dra_schwartz / Getty Images
ÜberArbeiten

Junge Menschen haben keinen Bock mehr auf Arbeit? Stimmt nicht, sie wollen bloß bessere Bedingungen. In dieser Kolumne zeigt Sara Weber, was schiefläuft in der Arbeitswelt. Und sie präsentiert Lösungen, wie es besser werden kann.

Sara Weber, Jahrgang 1987, ist Journalistin, Digitalstrategin und Autorin des Sachbuchs »Die Welt geht unter, und ich muss trotzdem arbeiten?«.

Alle Folgen ihrer Kolumne

Es ist Herbst und damit Erkältungs-Grippe-Corona-Saison. Nicht nur daheim wird geschnieft, sondern auch am Arbeitsplatz. Denn nur weil man krank ist, heißt das ja noch lange nicht, dass man nicht trotzdem den Laptop aufklappen kann. Man will ja niemanden hängenlassen. Und im Homeoffice arbeiten geht allemal. Im Notfall aus dem Bett.

Halt! Stop! Wer krank ist, sollte nach Hause gehen und sich auskurieren! Alles andere ist schlecht für die eigene Gesundheit und für das Unternehmen. Doch vor allem junge Beschäftigte ignorieren alle Risiken und gehen ihren Job nach, obwohl sie Symptome haben. Damit muss endlich Schluss sein.

Ich bereue, dass ich nicht einfach Tee getrunken und mich dann schlafen gelegt habe.

Ich sage das nicht nur, weil es Daten gibt, die diesen Trend belegen und zeigen, dass die Arbeit im Homeoffice ihn sogar noch verstärkt. Ich sage das auch aus jahrelanger Erfahrung: Ich habe Geschäftsreisen trotz Mittelohrentzündung und Fieber nicht abgesagt, eine Bronchitis verschleppt, sogar aus dem Bett noch E-Mails beantwortet, obwohl ich unfassbar erschöpft war. Meine Auftrag- und Arbeitgeber:innen haben mir das nicht gedankt und meine Gesundheit erst recht nicht. Es hat oft lange gedauert, bis ich wieder ganz gesund war. Ich war ein schlechtes Vorbild meinem Team gegenüber und bereue, dass ich nicht einfach Tee getrunken und mich dann schlafen gelegt habe.

Ich hatte die Hoffnung, dass die Pandemie uns zum Umdenken bewegt: Weil wir gemerkt haben, dass wir nicht nur uns selbst gefährden, wenn wir krank arbeiten gehen, sondern auch unsere Kolleg:innen. Aber diese Erkenntnis scheinen viele wieder vergessen zu haben: In einer Befragung  durch die Krankenkasse Pronova BKK im vergangenen Herbst gab fast jede zehnte Person an, selbst bei einer Coronainfektion mit mildem Verlauf zur Arbeit zu gehen. Weitere 17 Prozent arbeiteten in solch einem Krankheitsfall von daheim aus.

Der ungesunde Präsentismus

Auch jenseits von Corona ist Präsentismus, also die berufliche Anwesenheit trotz akuter Krankheit, ein verbreitetes Problem: Laut einer Befragung  der Techniker Krankenkasse aus 2022 gibt etwas mehr als ein Viertel der Beschäftigten an, häufig oder sehr häufig krank zu arbeiten. Nur 16,5 Prozent tun dies laut Datenlage nie.

Wenn ich hier von Krankheit schreibe, meine ich übrigens akute Erkrankungen. Natürlich gibt es Millionen Menschen, die jeden Tag mit chronischen Beschwerden zur Arbeit gehen, mit Bluthochdruck, Diabetes, Asthma und Rückenschmerzen. Auch für sie ist es wichtig, auf ihren Körper zu hören: Wann kann ich regulär arbeiten und wann nicht?

Nicht mal eine ärztliche Krankschreibung reicht, damit sich junge Menschen auskurieren. Stattdessen greifen sie häufiger als ältere zu Schmerzmitteln, um arbeiten zu können.

Vor allem Frauen und junge Beschäftigte neigen laut der Befragung der TK dazu, sich krank zur Arbeit zu schleppen, aber auch Menschen, die befristet angestellt sind oder viel Personalverantwortung tragen. Von den älteren Beschäftigten ab 60 Jahren sagen 37,5 Prozent, dass sie nie krank arbeiten gehen. Bei den jungen Beschäftigten bis 29 Jahren sagen das nur etwa 12 Prozent. So viel zum absurden Vorwurf, dass die Gen Z im Beruf faul und undiszipliniert sei.

Nicht mal eine ärztliche Krankschreibung reicht, damit sich junge Menschen auskurieren. Stattdessen greifen sie häufiger als ältere zu Schmerzmitteln, um weiter ihren Job zu machen. Sogar schwere Symptome wie Schmerzen, Schüttelfrost oder Fieber sind nur für ein Drittel der Beschäftigten bis 29 Jahre ein Grund, nie zu arbeiten. Bei emotionaler Erschöpfung, die ein Symptom für drohendes Burn-out sein kann, geht mehr als die Hälfte der Berufseinsteiger:innen trotzdem arbeiten.

Die Hauptgründe für Präsentismus? Dass es keine Vertretung gibt, man nicht ansteckend ist, den Kolleg:innen nicht zur Last fallen will, dass es dringende Termine gibt – oder man einfach gern zur Arbeit geht. Laut einer Befragung  der Initiative Gesundheit und Arbeit, getragen von verschiedenen Kranken- und Unfallversicherungen aus dem Jahr 2019, können auch die Angst um den Arbeitsplatz oder Erfahrungen mit Diskriminierung dazu führen, dass Menschen krank arbeiten.

Wer regelmäßig im Homeoffice arbeitet, hat eine höhere Wahrscheinlichkeit, trotz gesundheitlicher Beschwerden weiterzuarbeiten.

Dabei ist ein Risiko klar: Man kann andere anstecken. Am Ende ist die ganze Abteilung infiziert – und das Problem noch viel größer. Das ist vermutlich auch ein Grund dafür, weshalb Menschen, die ausschließlich vor Ort arbeiten, bei einer offiziellen Krankschreibung eher zu Hause bleiben. Wer regelmäßig im Homeoffice arbeitet, hat eine höhere Wahrscheinlichkeit, trotz gesundheitlicher Beschwerden weiterzuarbeiten. Als Grund nennen 38 Prozent der Befragten Schuldgefühle.

Bei Selbstständigen und Freiberufler:innen kommt eine weitere Hürde dazu: Wer nicht arbeitet, verdient auch kein Geld. Einen gesetzlichen Anspruch auf Krankengeld, wie er bei Angestellten in der Regel üblich ist, gibt es nicht. Aber es ist möglich, sich extra abzusichern, etwa über einen höheren Beitragssatz in der gesetzlichen Krankensicherung oder über eine private Krankentagegeldversicherung. Wer Rücklagen bilden kann, federt das finanzielle Risiko im Krankheitsfall ab. Denn gesundheitliche Risiken zu ignorieren und weiterzuarbeiten, ist auch selbstständig keine gute Idee.

Schlecht für Arbeitnehmende und Arbeitgeber zugleich

Wer sich nicht richtig auskuriert, könnte eine Krankheit verschleppen. Wer Beschwerden hat, kann in der eigenen Leistungsfähigkeit eingeschränkt sein und macht womöglich eher Fehler. Das kann auch für Unternehmen teuer werden und ist damit nicht im Interesse von Arbeitgeber:innen.

Deshalb: Wer krank ist, sollte daheimbleiben – ohne den Laptop aufzuklappen und auch ohne im Bett berufliche E-Mails auf dem Smartphone zu checken.

Dass die Realität das einem nicht immer einfach macht, ist aber auch klar: Gerade wer prekär beschäftigt ist, keinen festen Vertrag hat oder stündlich bezahlt wird, spürt vielleicht mehr Druck, unter allen Umständen auf der Arbeit aufzutauchen. Wer neu im Job ist, will sich beweisen, ein guter Teil des Teams sein. Wer seine Arbeit liebt, will immer alles dafür geben.

Aber man muss sich nicht beweisen, indem man sich krank in die Firma schleppt. Für eine ausreichende Personaldecke zu sorgen und Arbeit gerecht umzuverteilen, ist Aufgabe der Arbeitgeber:innen, nicht die der einzelnen Mitarbeitenden. Und kein Job der Welt ist es wert, die eigene Gesundheit aufs Spiel zu setzen – selbst dann nicht, wenn man ihn wirklich gern macht.