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Beecroft-Performance Die Nackten und die Zoten

100 nackte Frauen im Museum lösten in Berlin einen Besucheransturm und Tumulte vor der Neuen Nationalgalerie aus. Drei Stunden stellten sich die Modelle der neuen Beecroft-Performance "VB 55" zur Schau. Die Aktion rief Otto Normalberliner auf den Plan - und entpuppte sich als zweifelhafter Menschenzirkus.

Berlin - Der weiße Pavillon, unter dem zwei Frauen stehen und sich Tickets aus der Hand reißen lassen, wackelt. Mehrere Tausend Menschen stehen um zehn vor Acht vor der Neuen Nationalgalerie, die Veranstalter sind offensichtlich vom Ansturm überrascht und überfordert. Es wird gedrückt, geflucht, geschubst und gejammert.

Pünktlich um 20 Uhr beginnt die Performance der italienischen Künstlerin Vanessa Beecroft. 100 Frauen, die bis auf eine durchsichtige Nylonstrumpfhose unbekleidet sind, schreiten aus dem Keller. Die wütende Masse verfolgt den Einmarsch von draußen durch die gläsernen Wände der Nationalgalerie. Wer jetzt noch in Verdacht gerät vorzudrängeln, muss Prügel fürchten - Männer und Frauen in schicker Abendgarderobe verwandeln sich in Rotzlümmel und pöbelnde Marktweiber. Vor der Drehtür am Eingang werden Menschen an die Scheiben gequetscht. Schließlich öffnet ein Wachmann den Nebeneingang, obwohl die Zahl von 500 Besuchern, die eigentlich nicht überschritten werden soll, erreicht ist. Von hinten geschoben, stürzt der Strom in die Nationalgalerie. Ein Tumult, der entweder dem großen Kunstinteresse der Berliner geschuldet ist oder der Anziehungskraft nackter Frauen.

Die 35-jährige Beecroft hat 100 Frauen zwischen 18 und 65 in viereckiger Formation in der gläsernen Mies van der Rohe-Halle zu einem lebendigen Bild arrangiert. Drei Stunden sollen die Frauen still stehen; wenn sie müde sind, dürfen sie sich setzen oder hinlegen, aber nur in langsamer Bewegung. Sie dürfen nicht sprechen oder mit dem Publikum in Kontakt treten.

"Guck mal, die sieht aus wie ein Mann"

Die Szenen, die sich in der Neuen Nationalgalerie abspielen, erinnern eher an einen Jahrmarktbesuch als an eine Kunstausstellung. Museumswärter patrouillieren im Kreis um die nackten Frauen, damit die Masse den vorgeschriebenen Abstand von drei Mamorplatten im Fußboden nicht überschreitet. Einige Leute telefonieren, andere unterhalten sich lautstark. Ein Paar führt folgenden Dialog. Sie: "Guck mal, die sieht aus wie ein Mann. So muskulös und gar keine Brüste". Er: "Ja, ein richtiger Hermaphrodit. Und guck mal da: Die eine sieht aus wie ein Model und die daneben, wie von einem Polynesierstamm."

Das Publikum gafft ohne Scheu. Nur in den ersten Reihen sitzen Männer und Frauen, die wie die Nackten ins Leere starren. Ein weißhaariger Mann verharrt so drei Stunden lang, von Anfang bis Ende der Performance, wie ein meditierender Yogaschüler. Hinter ihm schieben sich immer wieder neue plappernde Schaulustige nach vorn. Einige ziehen mitgebrachte Getränke aus dem Rucksack.

"Ich glaube, dass die Nacktheit diese Frauen stark macht. Aber ich bin nicht mehr ganz sicher, ob ich sie nicht doch erniedrige", sagte Beecroft im Interview mit dem "Tagesspiegel". Seit gestern Abend kann sie sich sicher sein. Spätestens als jemand aus dem Publikum den Nackten Kleingeld vor die Füße wirft, muss man die zur Schau gestellten bedauern. Sie werden nicht nur als Gesamtkunstwerk betrachtet, sondern jede einzeln bewertet und abgeschätzt. Die Frauen sind Attraktionen, wie einst Liliputaner und Entstellte auf dem Jahrmarkt - ein ausschließlich weiblicher Menschenzirkus.

Verletzlich, wie nach einem chirurgischen Eingriff

Mit Sex und Lust hat das lebende Bild allerdings nichts zu tun. Dafür sorgen schon die Nylonstrümpfe. Gerade bei den Frauen mit rasierter Scham, wecken sie Assoziation an einen frisch überstandenen chirurgischen Eingriff. Verletzlich sehen die Nackten aus, auch wenn die meisten mit durchgedrücktem Rücken und erhobenem Kopf in der Reihe stehen. Sie sind ungeschminkt, die Haare offen und nicht gestylt. Die perfekte Schönheit makelloser Models, mit der Beecroft Mitte der neunziger Jahre berühmt wurde, will sie in Berlin nicht vorführen. Den "philosophischen" Deutschen könne sie "menschlichere Mädchen" zumuten, sagte die in New York lebende Künstlerin im Vorfeld. Und so stehen in der Nationalgalerie 100 normale Frauen zwischen 18 und 65 Jahren, mit prallen, kleinen und hängenden Brüsten, mit knackigen oder hängenden Pobacken.

Trotz aller Unruhe gibt es sie, die schönen Szenen: etwa eine Frau mit kurzen, braunen Haaren, die sich hinlegt und dabei den Kopf auf den Oberarm schmiegt. Als sie die Augen schließt, entspannen sich ihre Gesichtszüge; ganz friedlich sieht sie aus, schön, wie ein schlafendes Kind. Ein Bild, das auch im Alltag die Blicke festhalten würde, nur dass man in der Nationalgalerie nicht verschämt zu Boden blickt, wenn jemand bemerkt, dass man ihn starrt.

Fleischklopse zwischen Stehenden

Auch die Ansammlung von Körpern, ihrer Fleischlichkeit, hat für eine kurze Weile ihren visuellen Reiz. Von unten betrachten sehen die Frauen aus wie ein Labyrinth. Zwischen den Stehenden liegen Fleischklopse, Nackte die sich zusammengerollt haben, um den Rücken zu entspannen. Ständig ändert sich die Formation, mal liegt die Hälfte lang ausgestreckt, dann stehen die Modelle wieder auf. Die Gedanken der Betrachter schweifen: Ob sich die Modelle gegenseitig beeinflussen? Sicherlich, denn wenn eine Position das erste Mal auftaucht, gibt es sie einige Minuten später schon doppelt. Die Ausgestellten kopieren sich. "Wie es sich wohl anfühlt, so angestarrt zu werden", flüstert eine junge Frau. "Vielleicht sind wir ja für die der Zoo", sagt ihre Freundin.

Leider wird selbst diese Spannung zwischen "denen in der Mitte" und "denen außen herum" am Freitagabend schnell gebrochen. Trotz Kameraverbot, fotografieren die Besucher immer wieder heimlich aus allen Ecken, bis sich ein dunkelhaariges Mädchen, das aussieht, wie einem italienischen Fresko entstiegen, aus der Formation löst und eine Museumswärterin anspricht. Das Bild zerbricht in diesem Moment, die Distanz zwischen innen und außen, die gibt es ja gar nicht. Die drei Mamorplatten können überschritten werden.