Kommentar

Freestyle-Snowboarden ist Spitzensport zwischen Staunen und Entsetzen

Längst ist Freestyle-Snowboarden auf Weltniveau zum Spitzensport avanciert. Die Entwicklung der Sportart ist enorm, die Trainingsarbeit so vielfältig und interdisziplinär wie noch nie.

Philipp Bärtsch
Drucken
Lässt seine Tricks in der Halfpipe wie eine Selbstverständlichkeit aussehen: Der Schweizer Snowboarder und Gewinner des diesjährigen Laax Open Iouri Podladtchikov. (Bild: Gian Ehrenzeller / Keystone)

Lässt seine Tricks in der Halfpipe wie eine Selbstverständlichkeit aussehen: Der Schweizer Snowboarder und Gewinner des diesjährigen Laax Open Iouri Podladtchikov. (Bild: Gian Ehrenzeller / Keystone)

Im Freestyle-Snowboarden ist es wie im Zirkus: Die spektakulärsten Nummern rauben dem Publikum den Atem, aber irgendwie gelingt es den Artisten auch, eine Höchstschwierigkeit wie eine Selbstverständlichkeit aussehen zu lassen. Und wenn doch einmal ein Unfall passiert, wird aus Staunen schlagartig Entsetzen. Zum Beispiel am Samstag im Halfpipe-Final des Laax Open: David Hablützel stürzte fürchterlich, es war Glück im Unglück, dass der 21-jährige Zürcher mit starken Prellungen und einer Hirnerschütterung davonkam. Sein Teamkollege Iouri Podladtchikov gewann den Contest auf dem Crap Sogn Gion mit zwei Runs ohne die geringste Unsicherheit, ohne den kürzesten Schreckensmoment.

Zusammenarbeit mit Artisten

Viele empfinden es als Beleidigung oder als Verrat an den Ursprüngen, einige vielleicht auch als Kompliment. Jedenfalls ist Freestyle-Snowboarden auf Weltniveau längst ein Spitzensport wie manch anderer. Also ganz normal abnormal. 20 Jahre sind vergangen seit dem Olympiadebüt dieser Brettkünstler, und die Entwicklung seither ist enorm. Einst gingen Snowboarder einfach Snowboarden, und am Ende des Tages waren sie vielleicht ein bisschen bessere Snowboarder als am Anfang des Tages. Trainer? Gab es nicht, brauchte es nicht. Mittlerweile ist Freestyle-Snowboarden hochkomplex und die Trainingsarbeit so interdisziplinär wie noch nie.

Snowboarder sind immer weniger Künstler und immer mehr Akrobaten, und sosehr die Puristen auch betonen, wie wichtig doch der Style sei, die Ästhetik der Ausführung: Das Wetteifern um immer noch schwierigere Tricks mit immer noch mehr Rotationen um diese oder jene Körperachse lässt sich nicht aufhalten – wie jede andere Art von Fortschritt auch nicht. Warum sollte das im Snowboardsport anders sein als im Kunstturnen, Eiskunstlaufen – oder eben im Zirkus?

Der Schweizer Snowboarder David Hablützel muss nach dem fürchterlichen Sturz am Samstag von Rettungskräften mit dem Rettungsschlitten abtransportiert werden. (Bild: Gian Ehrenzeller / Keystone).

Der Schweizer Snowboarder David Hablützel muss nach dem fürchterlichen Sturz am Samstag von Rettungskräften mit dem Rettungsschlitten abtransportiert werden. (Bild: Gian Ehrenzeller / Keystone).

Wer die Evolution des Freestyle-Snowboardens verteufelt, weil ihm Stürze wie jener von Hablützel die erhöhte Gefahr vor Augen führen, sollte zumindest wissen, was hinter den schwierigsten Runs in der Halfpipe und den verrücktesten Sprüngen im Slopestyle oder Big Air steckt: nicht weniger Aufbauarbeit als hinter einer Zirkusnummer. Dazu passt, dass der Olympiasieger Iouri Podladtchikov schon lange mit dem früheren Zirkusartisten Alexei Ivanov zusammenarbeitet. Ivanov unterrichtet Akrobatik an der Accademia Teatro Dimitri, der Zirkusschule des 2016 verstorbenen Clowns, und sein 18-jähriger Sohn Victor ist eine der Schweizer Nachwuchshoffnungen in der Halfpipe.

Freestyle-Snowboarder werden längst genauso in Turnhallen, Skateparks und Fitnessräumen ausgebildet wie im Schnee. Und in den Wellen des Ozeans. Seit Jahren beginnt die Saisonvorbereitung des Schweizer Teams mit einem zweiwöchigen Surf-Camp im Juni. Das stärkt den Oberkörper, den Rumpf oder auch den Zusammenhalt. Und ein Brett unter den Füssen zu haben, schadet sowieso nie, ob Snowboard, Surfboard oder Skateboard – die Disziplinen sind artverwandt. Das Skateboard ist ganzjährig ein zentrales Trainingsgerät.

Investitionen in die Infrastruktur

Immer zahlreicher werden Trainingshallen wie die 2010 eröffnete «Freestyle Academy» in Laax mit Trampolinen, Schnitzelgruben, Luftkissen und Skateboard-Anlagen. In Crans-Montana wird bald ein Neubau eröffnet, zu den Initianten gehört ein Bruder von Pat Burgener, der Schweizer Nummer 2 in der Halfpipe. In Brig wird gerade das ehemalige Klosterbad zur Freestyle-Halle umgebaut, womit ab der kommenden Saison auch ein drittes nationales Leistungszentrum des Schneesportverbandes Swiss Ski über eine solche Infrastruktur verfügen wird.

Die Annäherung an klassische, in der Snowboard-Szene teilweise verpönte akrobatische Sportarten war nötig, um die weltbesten Freestyler auf das heutige Niveau zu hieven, das man bewundern oder hinterfragen kann wie jedes sportliche Spektakel. Quereinsteiger wie Zhang Yiwei oder Anna Gasser haben die Entwicklung weiter stimuliert. Der Chinese stand vor drei Jahren als erster Halfpipe-Snowboarder einen Triple Cork, einen Dreifachsalto, und die Österreicherin ist eine der besten Big-Air- und Slopestyle-Fahrerinnen. Beide wechselten vom Kunstturnen zum Snowboarden. Sie waren Akrobaten und sind es geblieben. Nur die Ausdrucksform ist jetzt eine andere.

Hablützel hat Glück im Unglück

(sda) Der am Samstag am Snowboard-Weltcup in Laax in der Halfpipe verunfallte Zürcher David Hablützel hat am Sonntag das Spital verlassen können. Der 21-Jährige war im zweiten Lauf des Finals mit voller Wucht auf die Kante der Halfpipe geprallt. Dabei erlitt er eine Hirnerschütterung sowie Prellungen an der Schulter und der Lendenwirbelsäule.