Wieso haben Kinder 13 Wochen Ferien, die Eltern aber nur 5? Auf der Suche nach den Wurzeln eines Problems

Die langen Sommerferien sind eine Herausforderung für viele Familien. Wohin mit den Kindern, wenn man selbst arbeiten muss? Die einfachste Lösung lautet «mehr Schule, weniger Ferien». Wieso ist das eigentlich kein Thema?

Christina Neuhaus 5 min
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Für viele Familien bedeuten die Sommerferien nicht nur Erholung.

Für viele Familien bedeuten die Sommerferien nicht nur Erholung.

Cyril Zingaro / Keystone

In den meisten europäischen Ländern dauern die Sommerferien neun bis zwölf Wochen. In einigen Ländern wie beispielsweise Italien, Irland oder Portugal schliessen die Schulen sogar mehr als drei Monate. Im Vergleich steht die Schweiz also einigermassen bescheiden da. In den meisten Kantonen dauern die langen Ferien nur fünf bis sieben Wochen, und doch sind sie für viele arbeitende Eltern ein Problem.

Von zwei auf fünf Wochen Ferien für Angestellte

Wohin mit den Kindern, wenn man selbst nur fünf Wochen Ferien zu gut hat und nicht alle gleichzeitig beziehen kann? Auch die geschicktesten Ferientaktiker unter den Müttern und Vätern schlagen dank Brückentagen und Überstunden höchstens zwei zusätzliche Wochen heraus. Damit bleiben immer noch mehrere Wochen, in denen man die Kinder den Grosseltern, dem Hort oder dem örtlichen Ferienpass-Programm übergeben muss.

Wenn nur ein Elternteil arbeitet, ist das Problem bewältigbar. Für Doppelverdiener und Alleinerziehende sind die Schulferien aber eine Herausforderung. Viele Kinderbetreuungsstätten haben mittlerweile reagiert und die Öffnungszeiten über die Ferienzeit angepasst. Doch nicht überall ist man so flexibel. In verschiedenen Gemeinden sind deshalb politische Vorstösse hängig, die eine Ausdehnung des Betreuungsangebots verlangen.

Doch weshalb haben Schulkinder überhaupt so viel Ferien? Um annähernd zu verstehen, weshalb der Feriensaldo von Kindern und Erwachsenen dermassen auseinanderklafft, lohnt es sich, einen Blick auf die Entstehungsgeschichte der Ferien zu werfen:

Als in der Schweiz 1960 der Mindestanspruch auf zwei Wochen gesetzliche Ferien eingeführt wurde, galt das als grosser gesellschaftlicher Fortschritt. Denn lange hatten Arbeiter und Angestellte gar kein Anrecht auf Ferien. Die Ausnahmen bildeten hohe kirchliche Feiertage, und mit etwas Glück bekam man auch am Feiertag des Lokalheiligen oder am Jahrmarkt frei. Ferien und Auslandreisen waren hauptsächlich dem wohlhabenden Bürgertum vorbehalten.

Das Anrecht auf Ferien für alle setzte sich erst im 20. Jahrhundert durch. Wie die Historikerin Beatrice Schumacher in ihrem Buch «Ferien. Interpretationen und Popularisierung eines Bedürfnisses. Schweiz 1890–1950» schreibt, reichen die Anfänge der Ferienindustrie über 100 Jahre zurück. Zu den ersten Tourismusunternehmen, die der Schweizer Arbeiter- und Mittelschicht Ferien verkauften, gehörten etwa die 1898 gegründete Ferienorganisation des schweizerischen Eisenbahnerverbandes, der von Migros-Gründer Gottlieb Duttweiler 1935 ins Leben gerufene «Hotelplan» und die ab 1939 aufgebaute Schweizerische Reisekasse des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds.

Von der Winter- und der Sommerschule

Laut Schumacher war die Schweiz bis 1914 von einer sozialpolitischen Aufbruchstimmung geprägt, die das Land zu einer internationalen Pionierin der Feriengesetzgebung werden liess. Schon ab 1879 kam das eidgenössische Personal in den Genuss garantierter Ferien, und auch die eidgenössischen Fabrikinspektoren forderten schon früh Betriebsferien für die Arbeiter und Angestellten. Der Wirtschaftsabschwung in der Zwischenkriegszeit und der Zweite Weltkrieg kühlten das Ferienfieber für ein paar Jahre ab. Doch dann reagierten die Arbeitgeber in immer kürzeren Abständen auf die Erholungsansprüche ihrer Angestellten: Nur sieben Jahre nach der gesetzlichen Verankerung von zwei Wochen Ferien wurde der Mindestferienanspruch 1973 auf drei Wochen erhöht. Seit 1984 gilt in der Schweiz ein Minimum von vier Wochen Ferien pro Jahr, im Schnitt haben die Erwerbstätigen in der Schweiz aber fünf Wochen Ferien. Eine Volksinitiative für sechs Ferienwochen wurde 2012 von über 60 Prozent des Stimmvolks abgelehnt.

Doch wie ist das nun mit der Geschichte der Schulferien? Die Frage ist offenbar gar nicht so einfach zu beantworten. Lucien Criblez, Professor für Historische Bildungsforschung und Steuerung des Bildungssystems an der Universität Zürich, sagt, es gebe zu Schulferien keine historische Forschung für die Schweiz.

Gesichert sei, dass sich die Schulferien im 19. und bis weit ins 20. Jahrhundert an den Bedürfnissen der bäuerlichen Gesellschaft orientierten. Als die Kantone ab den 1830er Jahren die weitgehende Verantwortung für die Volksschule übernahmen, wurde laut Criblez zunächst zwischen Winter- und Sommerschule unterschieden. Die Kinder wurden im Sommer auf dem Feld gebraucht. Deshalb sorgte man für lange Ferien und verlegte den Unterricht so weit wie möglich in den Winter.

Das sei, ergänzt die Erziehungswissenschafterin Margrit Stamm auf Anfrage, zum Schutz der Kinder geschehen. Man wollte, dass sie ihr Recht auf Schulbildung wahrnehmen konnten und nicht zum Schwänzen verleitet wurden, nur weil zu Hause jede Hand gebraucht wurde. Irgendwann kamen die sogenannten Heuferien dazu, die es erlaubten, dass die Kinder im Mai oder Juni beim ersten grossen Grasschnitt helfen konnten.

In der Schweiz setzt die Eidgenössische Konferenz der Erziehungsdirektoren die Termine der Schulferien fest. Doch auch dort weiss niemand so genau, weshalb Schulkinder so viel Ferien haben. Etwas vage verweist man auf das Schulkonkordat von 29. Oktober 1970. Das legt zwar nicht die Anzahl der Ferienwochen fest, dafür aber die Minimalanzahl an Unterrichtswochen. Daraus lässt sich immerhin ableiten, wie viele Wochen anderweitig als mit Schulunterricht zu füllen sind. Allerdings gilt dieser Umkehrschluss nicht für alle Kantone. Der Kanton Tessin ist dem Konkordat nicht beigetreten, unter anderem weil er, inspiriert von Italien, eisern an zehn Sommerferienwochen festhält.

Wann genau die Schulferien nach dem sogenannten «ewigen Schulferienkalender» verteilt wurden, ist unbekannt. Doch irgendwann begann man offenbar damit, die langen Schulferien im Sommer auf andere Jahreszeiten umzulagern: Sportferien, Frühlingsferien, Sommerferien, Herbstferien, Weihnachtsferien. Laut Margrit Stamm war die Verlagerung auf Frühling und Herbst ebenfalls eine Reaktion auf das bäuerliche Jahr. Anders jedoch die Sportferien. Sie sind eine Erfindung der 1960er Jahre, als man die gesundheitlichen Vorteile des Volkssports entdeckte und die Kinder zum Schneesport animieren wollte. Die helvetische Tradition der Skilager entstand ebenfalls zu dieser Zeit.

Somit bleibt noch die Frage, weshalb die vielen Ferien für Schulkinder trotz den Problemen, die sie vielen Familien bereiten, nirgends infrage gestellt werden. Die wenigsten Kinder müssen heute auf dem heimischen Bauernhof helfen. Zudem ist mittlerweile bewiesen, dass viele Kinder einen Teil des Gelernten während der Sommerferien wieder vergessen. Vom sogenannten Sommerloch-Effekt seien vor allem Arbeiterkinder betroffen, sagt Margrit Stamm. Sie müssten auf jüngere Geschwister aufpassen oder würden während der langen Ferien sich selbst überlassen. Die Kinder von gutsituierten Eltern hingegen würden meist auch über die Sommerwochen gefördert. Man schicke sie in Sprachaufenthalte, Ferienhorte oder ins Sommercamp, lese mit ihnen oder besuche gemeinsam ein Museum. Ein Ungleichgewicht, das sich negativ auf die in der Volksschule angestrebte Chancengleichheit auswirkt.

Reformen? Einen Vorschlag gibt es schon

Trotz allen Nachteilen, die zu lange Schulabsenzen mit sich bringen, ist die Idee, den Schulkindern ein paar Wochen Ferien wegzunehmen, bisher nie ernsthaft diskutiert worden. Lucien Criblez sagt, Debatten über die Verkürzung der Ferien seien ihm nicht bekannt. Dabei gebe es so etwas wie ein «richtiges» Verhältnis zwischen Unterrichtszeit und freien Wochen nicht. Über die Einführung der Fünftagewoche sei in den 1990er Jahren lange und intensiv debattiert worden. Das zeige, dass es sich bei solchen Diskussionen primär um normative Festlegungen handle, die mit gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklungen zusammenhingen.

Während einige Privatschulen mit der Flexibilisierung der Schulzeit experimentieren und dabei gute Erfahrungen machen, hält die öffentliche Schule also an einem Rhythmus fest, der aus den Anfängen der Industrialisierung stammt.

Dabei gäbe es eine Lösung. Die Zürcher Unternehmerin Esther-Mirjam de Boer hat sie schon vor ein paar Jahren in der «Handelszeitung» skizziert: 2 Wochen Ferien an Weihnachten und 4 Wochen im Sommer sowie 5 Jokertage pro Jahr. Anstelle von weiteren Ferien gäbe es jedes Semester 2 Projektwochen für alle.

Kinder und Lehrpersonen hätten zwar weniger unterrichtsfreie Zeit, dafür mehr Zeit für den Unterricht – und damit weniger Stress.