Interview

«Panik ist nie ein guter Ratgeber» – Pascal Couchepin über das Leben und den Tod

Als Politiker war er so dominant, dass ihn seine Gegner «Sonnenkönig» schimpften. Im Gespräch mit der NZZ erzählt alt Bundesrat Pascal Couchepin, wie ihm der Sprung ins Rentnerleben gelang, woran die AHV krankt – und was er von Blochers letztem Streich hält.

Marc Tribelhorn, Christina Neuhaus
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«Als Liberaler ist man Optimist»: Pascal Couchepin, freisinniges Urgestein, im Garten seines Hauses in Martigny.

«Als Liberaler ist man Optimist»: Pascal Couchepin, freisinniges Urgestein, im Garten seines Hauses in Martigny.

Severin Bigler / AZM

Pascal Couchepin, als Bundesrat waren Sie immer unter Strom. Können Sie das Rentnerleben überhaupt geniessen?

Der Unterschied ist nicht so gross, wie Sie vielleicht meinen. Ich habe fast die gleichen Interessen wie früher. Ich lese viel, Bücher und Zeitungen, ich diskutiere. Vor einigen Wochen war ich auf Sizilien auf einer archäologischen Studienreise – es war eine grosse Freude. Ich habe mehr Zeit für mich. Aber ich bin jetzt 80 Jahre alt, man denkt weniger schnell, alles dauert länger. Die Gebresten nehmen zu. In meinen elf Jahren als Bundesrat war ich nur zweimal krank. Man hatte nicht einmal dafür Zeit.

Sie wurden von einem auf den anderen Tag vom Staatslenker zum Rentner. Hatten Sie keine Entzugserscheinungen?

Vielleicht habe ich es verdrängt, aber für mich war es vor der Demission viel schwieriger. Man fragt sich: Oh, was werde ich danach machen? Kommt noch etwas Spannendes? Soll ich ein Haus renovieren, um eine Struktur zu haben? Ich überlegte mir, ob ich besser im Frühling zurücktreten soll als im Herbst. Die Jahreszeit, in der sich die Natur erneuert, würde mir dann helfen, den Abschied zu ertragen. Und dann wird man frei und hat plötzlich Offerten für schöne Engagements.

Zum Beispiel?

Ich wollte nach meinem Rücktritt nie irgendwo Verwaltungsrat werden, aber mich weiterhin für die Gesellschaft einbringen. Inzwischen habe ich aber fast alle Mandate in Stiftungen abgegeben. Neuerdings unterstütze ich Peter Bodenmann, meinen alten, freundlichen Gegner. Er plant eine Solaroffensive in den Walliser Alpen. Ein phantastisches Projekt! Sie sehen, ich arbeite auch mit Sozialdemokraten zusammen, wenn es zukunftsträchtig ist. Stammesdenken verhindert viele gute Lösungen.

Sie haben Ihr Ausscheiden aus dem Berufsleben vorbereitet.

Man muss die neue Zeit vorausdenken. Es gibt Menschen, die kurz vor dem Ruhestand wie gelähmt sind, unfähig, sich die Frage nach dem danach zu stellen. Sie sind eher gefährdet, in ein Loch zu fallen. Ich habe mich früh mit dem Alter und dem Tod beschäftigt. Mein Vater starb mit 40 Jahren im Militär, da war ich 5-jährig. Als ich 25 Jahre alt war, starben meine Grosseltern. Das beunruhigte mich, weil ich realisierte: Zwischen dem Grab und mir stand nur noch meine Mutter. Seither sind die Jahrzehnte nur so an mir vorbeigerast.

Früher waren Rentner einfach alt. Heute fahren sie zum Mittagessen mal schnell ins Tessin.

Es ist eine Binsenweisheit, aber doch bemerkenswert: Mit der verlängerten Lebensdauer bleiben wir länger jung. Heute ist eine 65-jährige Person nicht mehr alt. Die Rentner sollten sich denn auch nicht als Betagte betrachten und länger aktiv bleiben. Natürlich gibt es Ausnahmen wie die Arbeiter, die ihre Körper geschunden haben. Aber die grosse Mehrheit der Bevölkerung ist physisch und seelisch gesünder als Gleichaltrige aus allen früheren Epochen der Geschichte. Gerade hier.

Im Wallis?

Hier ist man in den Bergen, viele Pensionierte haben eigene Weinreben, sind draussen in der Natur. Ich glaube, es ist leichter, in einer ländlichen Region alt zu werden, als in einer Dreizimmerwohnung in der Stadt Zürich. Hier schaut man aufeinander, die Vereinsamung ist weniger ein Problem.

Adolf Ogi, Ihr Compagnon aus dem Bundesrat, erzählte uns, dass ihm die Religion Halt gebe.

Ich bin gläubiger, liberaler Katholik. Ich gehe nicht jede Woche in die Kirche, aber doch regelmässig. Letzthin debattierte ich mit einem ehemaligen Generalvikar eines Bistums über die grossen theologischen Tugenden: Glaube, Barmherzigkeit, Hoffnung. Der Glaube ist in der Gesellschaft immer weniger verbreitet. Bon, das muss man akzeptieren Die Barmherzigkeit wird heute oft kommerzialisiert und publizistisch genutzt. Die einzige christliche Tugend, die noch gleich ist und die wir auch dringend brauchen, ist die Hoffnung. Dass unter den schlimmsten Umständen noch eine Chance auf Besserung besteht, auf Fortschritt. Gerade wenn wir sehen, was heute auf der Welt los ist.

Sie sind Teil der glücklichen Generation, in der es immer nur nach oben ging.

Das sagt man so. Und materiell stimmt es auch für viele Menschen in der Schweiz. Wir sind mit dem Wirtschaftswachstum gross geworden, mit einem Studium hatte man fast garantiert einen Job. Aber bemisst sich Glück allein daran? Ich wurde noch während des Zweiten Weltkriegs geboren, das war nicht gerade die glücklichste Zeit der Menschheit. Ich komme aus einer Familie mit grosser Tradition, aber wenig Geld. Im Kalten Krieg fürchteten wir uns davor, dass die Sowjets einmarschieren. Im Militär sagte man mir: Die russischen Panzer sind in nur 48 Stunden an der Schweizer Grenze. Es hätte zu einem Atomkrieg kommen können. Es gab Zukunftsängste. Es gab Tschernobyl. Aber in der Rückschau sieht das alles harmlos aus.

Inzwischen üben die Jüngeren auch Kritik am Lebensstil der Älteren, die viel zu lange zu viel konsumiert hätten – sorglos, ohne Rücksicht auf das Klima, den Planeten, die Nachfahren.

Das hat einen Kern Wahrheit. Aber in der Schweiz hinterlassen wir einen intakten Staat mit gesunden Finanzen. Die Institutionen sind respektiert; die Infrastruktur auf einem weltweit fast einzigartigen Niveau. Wenn es noch gelingt, die Sozialwerke, die wir nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs aufgebaut haben, zu stabilisieren, dann haben wir den nachfolgenden Generationen ein gutes Erbe hinterlassen. Wir müssen den menschengemachten Klimawandel bremsen, keine Frage. Aber wahrscheinlich wirken auch Faktoren, die wir nicht beeinflussen können. Im 10. Jahrhundert gab es in Zermatt Weinberge, dann rückten plötzlich die Gletscher vor, heute verschwinden sie wieder. Panik ist nie ein guter Ratgeber.

Die Generationengerechtigkeit ist auch ein grosses Thema bei der Altersvorsorge. Die letzte geglückte AHV-Reform, noch unter der SP-Bundesrätin Ruth Dreifuss, liegt ein Vierteljahrhundert zurück. Ende September stimmen wir wieder über einen Reformschritt ab. Ihre Prognose?

Die Revision ist nötig, es hat sich viel zu lange nichts getan. Ich bin zuversichtlich, dass sie vom Volk angenommen wird. Die Argumente der linken Gegner sind schwach: Sie misstrauen den Prognosen, die ja aus der tendenziell sozialdemokratischen Verwaltung stammen, und damit auch dem eigenen SP-Bundesrat Berset. Sie predigen immer die Gleichheit der Geschlechter. Aber wenn es um das gleiche Rentenalter von Männern und Frauen geht, soll das plötzlich nicht mehr gelten. Schon jetzt warnt der Gewerkschaftsboss Pierre-Yves Maillard davor, dass nach dieser Reform bald ein noch höheres Rentenalter eingeführt wird. Was soll das?

Sie haben ja einst als Bundesrat das Rentenalter 67 ins Spiel gebracht . . .

. . . und ich ging konsequenterweise dann auch mit 67 in Pension. Ich stehe noch immer zu meiner Forderung. Damals gab ich meinen Mitarbeitenden den Auftrag, mir eine Prognose für die nächsten Jahre vorzulegen. Sie sagten: Wir haben ein Finanzierungsproblem, aber drei Lösungen. Die erste war die Reduktion der Renten – politisch unmöglich! Zweitens eine massive Erhöhung der AHV-Beiträge – unbedingt zu vermeiden! Es blieb, drittens, die Erhöhung des Rentenalters nach der Entwicklung der Lebenserwartung. Die Jungfreisinnigen haben nun eine entsprechende Initiative formuliert, formidable!

Sie gerieten unter Beschuss, Ihre Partei verlor daraufhin in den nationalen Wahlen 2,6 Prozent. Sie wurden dafür verantwortlich gemacht.

Jaja, wir haben auch schon die Wahl davor verloren – bin ich dort auch schuldig? Mir sagten damals die meisten Leute, egal von welcher Partei: Du hast vollkommen recht, die demografischen Entwicklungen sind klar. Aber wir können das nicht öffentlich sagen, unsere Wähler würden das nicht goutieren. Das ärgert mich bis heute. Die direkte Demokratie dieses Landes bedingt das Vertrauen in die Vernunft des Volkes. Wo kommen wir hin, wenn man im Hintergrund sagt, es sei notwendig, aber man dürfe es den Menschen nicht zumuten? Das führt dazu, dass das Volk immer weniger glaubt, was die Politik sagt.

Sie hatten die Illusion, die Politik sei ernsthaft daran interessiert, das Problem zu lösen.

Es war ein grosser Irrtum. Die Frage des Rentenalters wurde sofort verpolitisiert, die kurzfristigen Interessen siegten. Der Gewerkschafter Paul Rechsteiner organisierte gleich eine Demo gegen mich, als ich mit den Medien auf einer Wanderung auf der St. Petersinsel war. Aber von Gegenwind darf man sich nicht beirren lassen. Ich bin überzeugt, dass es eine Kundschaft gibt für eine sachliche und intelligente Politik. Das betrifft nicht nur die Sozialwerke, sondern alle wichtigen Themen von der EU bis zur Sicherheitspolitik.

Aber wenn das Volk so vernunftbegabt ist, wie Sie sagen, weshalb ist es so schwierig, eine AHV-Revision zu vermitteln?

Ich führe das auf eine Wohlstandsbehäbigkeit zurück. Weshalb irgendwo Abstriche machen? Und natürlich ist Politik nie eine Einbahnstrasse. Die Parteien vertreten unterschiedliche Interessen, es braucht Kompromisse. Man sollte aber immer zuerst das Ziel im Blick haben, nicht den Kuhhandel, den es dafür wahrscheinlich brauchen wird. Die AHV ist momentan nicht in einem so schlechten Zustand. Aber nur, weil wir kürzlich zwei Milliarden Franken hineingesteckt haben, im AHV-Steuer-Deal, einem Paradebeispiel für Kuhhandel. Bald sieht es wieder düster aus.

Die Demografie lügt nicht. Immer mehr Menschen werden immer älter.

Die magische Zahl 65 als Pensionsalter stammt aus dem Deutschen Kaiserreich. Nach dem Sieg über Frankreich liess Bismarck eine Pension einrichten, berechnet aus der damaligen Lebenserwartung und dem zur Verfügung stehenden Geld. Heute ist das Rentenalter 65 heilig, wie von Gott gegeben. Man muss den Einzelfall anschauen, aber allgemein sind die meisten Menschen heute viel zu lange in Rente.

Sie haben einmal gesagt, dass Sie kein Grossvater sein wollen, der nur noch dazu dient, die Leistungen der Jungen herunterzumachen.

Der Alterspessimismus ist leider weit verbreitet. Es fehlt die Neugierde auf Neues. Alles, was die Jungen machen, soll schlechter sein als früher. Ich sehe das ganz anders, vielleicht auch wegen meiner Enkel. Ich interessiere mich für ihre Meinungen. Meine Mutter wurde 92 Jahre alt. Vor Abstimmungen hat sie jeweils ihre Enkel gefragt, was ihnen am meisten nützen würde. Das verbindet die Generationen.

Sie wirken sehr zufrieden mit dem Alter.

Ich habe kein Bedauern. Ich schaue nicht mit Bitterkeit zurück. Wegen eines Wanderunfalls war ich letzthin in der Reha. Dort hatte es Menschen, denen Schreckliches passiert ist. Man sieht dort den Wert eines selbstbestimmten Lebens besser.

Haben Sie kein grosses Projekt, das Sie noch vollenden wollen?

Ich glaube, dass es dieser Schweiz nicht so schlecht geht. Zudem sollen Jüngere das Heft in die Hand nehmen. Das ist der Lauf der Dinge. Ich fand es immer etwas peinlich, wenn ich an internationalen Treffen mit ehemaligen Staatsführern war, die zwanghaft noch Einfluss haben wollten. Sie litten darunter, dass sie nicht mehr so wichtig waren. Sie konnten nicht loslassen. Da schwingt bei mir sogar etwas Mitleid mit.

Christoph Blocher, Ihr alter Intimfeind im Bundesrat, lanciert gerade eine Neutralitätsinitiative.

Ich respektiere ihn sehr, nicht für seine politischen Ideen, aber als Mensch. Diese Initiative ist eine Alterserscheinung. Er denkt, dass er einen Auftrag Gottes hat, den er noch erfüllen muss: die Sicherung der Unabhängigkeit der Schweiz. Die Idee des Auftrags, ist das protestantisch?

Machen Sie sich Gedanken über den Tod?

Ich weiss nicht, was kommen wird. Aber ich habe die Hoffnung, dass es angenehm werden wird. Als Liberaler ist man Optimist. Bei meiner Wirbelsäulenoperation vor zwei Monaten sagte ich zum Arzt: «Wenn es schiefgeht, lassen Sie mich gehen!» Während der Narkose träumte ich davon, wie ich in Griechenland mit Gelehrten zusammensass und Ouzo trank. Als ich wieder erwachte, war ich fast ein bisschen enttäuscht. Der Arzt sagte, das sei ein gutes Zeichen, ich sei mit mir im Reinen. Ich bin demütig, ich hatte ein gutes Leben, ich kann getrost abtreten. In nicht so langer Zukunft wird es der Fall sein. Wenn ich Glück habe, ohne grosse Schmerzen.

Soll Ihre Abdankung zelebriert werden?

Ich habe eine klare Vorstellung, wie es ablaufen soll. Eine Prozession soll es sein, um den Zentralplatz in Martigny herum, mit allem Tamtam. Auf dem Sarg die Flaggen meiner Heimatstadt und der Schweiz, in der Kirche ein Requiem mit gregorianischen Chorälen. Dann ein Fest für meine Familie und das Volk. Nur schade, dass ich nicht selbst dabei sein kann. Für meine Enkel wird so die letzte Spur des Alten gelegt. Aber letztlich werden meine Kinder frei entscheiden, wie man das organisiert.

Was meint Ihre Frau dazu?

Sie lacht und sagt, ich würde spinnen. Die Alternative wäre, mich ganz bescheiden begraben zu lassen. Aber das wirkt – so nüchtern inszeniert – ja auch wieder arrogant.