Interview

Michèle Roten sagt: «Der Faktor, eine junge Frau zu sein, ist unglaublich mächtig»

Die Schweizer Autorin Michèle Roten hat mit 42 Jahren ein Buch über ihren Körper geschrieben. Sie ist überrascht, wie sehr dieser ihr ganzes bisheriges Leben geprägt hat.

Aline Wanner
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«Ich möchte mit meinem Körper alles erleben», sagt Michèle Roten.

«Ich möchte mit meinem Körper alles erleben», sagt Michèle Roten.

Tom Haller / Echtzeit Verlag

An Büchern über Frauenkörper mangelt es nicht. Warum braucht es Ihres auch noch?

Ich begann vor drei Jahren, daran zu arbeiten. Bevor ich es beendet hatte, in der Schlussphase, merkte ich: Da kommt gerade noch ein Buch zu diesem Thema und noch eines. Das finde ich aber gut. Anscheinend besteht Interesse am Thema. Und ich schreibe ja nicht für den Zeitgeist. Es war ein inneres Bedürfnis.

Wie kamen Sie auf die Idee?

Ich habe mit einer Freundin, einer Regisseurin, über Filmideen herumgesponnen. Wir haben darüber gesprochen, dass in einem Frauenleben sehr viel vom Körper abhängig ist. Zuerst ist Sex wichtig, dann bekommst du Kinder, das ist eine sehr körperliche Zeit: Schwangerschaft, Geburt, Stillen. Danach kommt die Menopause. Mich hat irgendwie überrascht, wie wichtig der Körper ist, weil ich mich nie besonders mit ihm beschäftigt hatte. Er war einfach da.

Wann hatte Ihr Körper einen besonders grossen Einfluss auf Ihr Leben?

In meinen Zwanzigern zum Beispiel: Mir dämmert so langsam, dass meine Eroberungen tatsächlich wenig damit zu tun hatten, wer ich war, sondern mehr mit der Tatsache, dass ich eine junge Frau war.

Jung und schön.

Nein, nicht schön. Nur jung und Frau. Als ältere Frau habe ich kapiert: Der Faktor, eine junge Frau zu sein, ist unglaublich mächtig. Du kannst jeden Mann haben, den du willst. Wenn Männer ehrlich wären, würden sie das zugeben.

Dafür gibt es eine einfache evolutionsbiologische Erklärung: Wer sich als Mann fortpflanzen will, braucht eine fruchtbare Frau.

Ich fühle mich mit dieser Erklärung nicht so wohl, aber sie stimmt wahrscheinlich.

Wie geht man damit um?

Die Frage ist: Wie geht man damit um, wenn man nicht mehr jung ist? Ich dachte mein Leben lang, es gebe ziemlich viele Männer, die noch etwas wären für mich. Irgendwann habe ich das nicht mehr gedacht, und die Männer fanden mich auch nicht mehr interessant.

Wäre Ihr Leben als Mann anders verlaufen?

Als Mann hätte ich wahrscheinlich Medizin studiert und wäre jetzt Arzt. Ich hätte sicher keine Kolumne für «Das Magazin» schreiben können, die auf Interesse bei den Leserinnen und Lesern gestossen wäre. Eine junge Frau zu sein, war entscheidend.

Sie haben für Ihre Karriere von Ihrem Geschlecht profitiert.

Das habe ich aber erst später festgestellt.

Wie sind Sie bei der Recherche für das Buch vorgegangen?

Von unten nach oben. Jetzt, nachdem ich fertig geworden bin, fällt mir aber noch so viel ein.

Was zum Beispiel?

Als der Lockdown begann, haben alle Frauen ihren BH in die Ecke geschmissen.

War das so?

Zumindest bei mir und vielen Frauen, die ich kenne. Frauen mögen keine BH. Ich zum Beispiel brauche keinen, da muss nichts gestützt werden. Ich möchte nur die Nippelsituation beruhigen.

Warum lassen Frauen den BH nicht einfach weg?

Weil das halt registriert wird, vor allem auch von Männern: als Signal. Aber es ist keine Einladung oder so etwas. Es ist einfach nichts.

Oft sind es aber Frauen, die andere Frauen bewerten.

Da hat sich viel verändert. Frauen sind wohlwollender geworden einander gegenüber.

Sie schreiben über Ihr Gewicht und rechtfertigen sich, von Natur aus dünn zu sein. Warum?

Viele Leute denken, ich esse nur einen Apfel am Tag, was nicht stimmt. Das ist ein perverser Mechanismus. Ich denke gar nie über mein Gewicht nach, aber offenbar die anderen.

Und warum erklären Sie sich?

Ich wollte einfach sagen: Meine Figur entspricht zufällig einer Schönheitsnorm, spielt aber in meinem Selbstverständnis keine Rolle.

Haben Frauen ein anderes Verhältnis zu ihrem Körper als Männer?

Wie nicht? Er ist noch immer ein Objekt, ein Politikum. Natürlich gibt es auch Männer, die unsicher sind und sich mit ihrem Körper befassen. Aber wir waren immer die, über deren Körper geurteilt wurde.

Dass Frauen nun mehr über ihren Körper reden und schreiben und so die öffentliche Diskussion stärker bestimmen, ist eine Form der Emanzipation.

Vor allem, weil es nicht mehr nur um Ästhetik geht, sondern darum, was es bedeutet, in so einem Körper zu stecken, und was gesellschaftlich passieren muss, damit es den Bewohnerinnen dieses Körpers gutgeht. Es gibt in London Firmen, die Moon-Days anbieten. Frauen können zwei Tage im Monat freinehmen, ohne das zu begründen.

Wer seine Tage hat, bleibt zu Hause?

Und muss nicht einen Zahnarzttermin erfinden oder irgendetwas anderes. Ich habe heute Moon-Day und komme nicht, that’s it. Das finde ich gut, auch wenn ich selbst keine Probleme habe mit der Menstruation.

Sie schreiben von einer «aggressiven Enttabuisierung der Menstruation». Da nehme ich ein Unbehagen wahr.

Ich habe Menstruation nie tabuisiert und mein Umfeld auch nicht. Wenn ich einen Blutfleck irgendwo hatte, sagte ich das, auch gegenüber Männern. Deshalb habe ich den Eindruck, wenn Frauen jetzt mit Tampons demonstrieren, rennen sie offene Türen ein. Ich interessiere mich auch nicht besonders für die Vulva. Ich finde es unangenehm, wenn das von mir verlangt wird. An meinem vierzigsten Geburtstag kam ein Tätowierer. Meine Freunde haben Vorlagen für ihn gezeichnet: lauter Vulven. Dabei beschäftigen die mich gar nicht. Ich möchte nicht, dass neue Zwänge entstehen durch eine Bewegung, die uns frei machen sollte.

Passiert das?

Auf eine Art schon.

Wenn man das Gefühl hat, man soll eine Menstruationstasse benutzen?

Plötzlich entsteht eine Erwartungshaltung, die ich nicht bedienen möchte. Ich will frei sein. Frauen sollen nicht noch häufiger ein schlechtes Gewissen haben. Viel zu oft fragen sie sich: Bin ich eine gute Mutter? Eine gute Feministin? Eine gute Freundin? Es gibt so viel Unsicherheit. Wenn ich mich frage, ob ich Vulven toller finden müsste, ist das doch doof.

Wann ist die Auseinandersetzung mit dem Körper politisch – und wann einfach nur banal?

Man kann natürlich sagen, mein ganzes Buch sei komplett banal. Wen interessiert, ob ich meine Zwiebelrülpser mag oder nicht? Was ich mir aber erhofft habe: Ich erzähle von meinem Körper und andere tun es dann vielleicht auch. Je mehr Frauen darüber sprechen, desto stärker verändert sich das Narrativ.

Was haben Sie über sich gelernt?

Ich möchte mit meinem Körper alles erleben. Darum habe ich ihn tätowieren lassen und gehe Bungee jumpen und habe ein Kind ausgetragen. Ich möchte alles empfinden, was man empfinden kann.

Empfindet man körperlich anders als geistig?

Total. Ich würde zum Beispiel unheimlich gern einmal Heroin nehmen, in ärztlicher Begleitung natürlich, ganz kontrolliert. Ich sehne mich nach Erfahrungen.

Ich dachte beim Lesen eher, ich bin froh, habe ich kein Zungenpiercing und habe ich mir kein chinesisches Zeichen stechen lassen. Würden Sie Ihrem 10-jährigen Sohn davon abraten?

Ich weiss nicht, was ich ihm sagen soll. Das mit diesem chinesischen Zeichen war einfach eine dumme Idee. Aber in dem Moment musste es irgendwie sein. Hätten meine Eltern mich davor gewarnt, wäre mir das egal gewesen. Fehler zu machen, gehört zum Erwachsenwerden.

Was mich überrascht: Sie haben im vergangenen Jahr Ihre Nase operieren lassen, auch aus ästhetischen Gründen.

Die Idee kam mir, als mir ein Bub sagte, ich hätte eine Hexennase. Er war nicht der Erste. Da dachte ich plötzlich: Ich könnte das ändern. Ich bin 42 und habe das Geld. Ich hatte auch immer Probleme mit meiner Nase, sie hat gejuckt, ich musste immer niesen, also habe ich alles zusammen operieren lassen. Ich wollte nicht unbedingt schöner werden, ich wollte nur eine Nase, die mir besser gefällt. Das kann man mir jetzt glauben oder nicht.

Ist es als Frau schwieriger, zu altern?

Alter bedeutet im biologischen Sinn: Wir können uns nicht mehr fortpflanzen und haben unseren Lebenssinn verspielt. Aus dieser Perspektive ist es logisch, dass es für Frauen schlimmer ist, alt zu werden.

Wie altert man elegant – innerlich und äusserlich?

Ich finde, Jane Fonda altert perfekt. Sie hat durchaus ein paar Sachen machen lassen, aber nicht so, dass man ihr Alter nicht mehr erkennt. Sie ist einfach eine strahlende 80-Jährige. Ich wäre so gerne eine Frau, die sich über neue Falten freut und sich jeden Tag schöner findet.

Aber das sind Sie nicht.

Immer länger auf der Welt zu sein, mag ich. Das reibe ich Jungen unter die Nase und erkläre ihnen Dinge. Aber das körperliche Altern finde ich nicht schön: Es ist verbunden mit Schmerzen, man ist weniger frei, irgendwann sterben die Freunde. Was soll ich daran feiern?

Michèle Roten (* 1979) ist Journalistin und Autorin, für «Das Magazin» hat sie zwischen 2005 und 2014 die Kolumne «Miss Universum» geschrieben. Soeben ist im Basler Echtzeit-Verlag ihr jüngstes Buch erschienen: «Wie mit (m)einem Körper leben. Eine Auto-Autopsie» (160 S., Fr. 31.90).