«Jedes Kind auf der Welt wird seinen Namen kennen» – seit 25 Jahren ist Harry Potter ein Phänomen. Warum?

«Jedes Kind auf der Welt wird seinen Namen kennen» – seit 25 Jahren ist Harry Potter ein Phänomen. Warum?

Warner Bros. / Courtesy Everett Collection / Imago

1997 schrieb eine mittellose Britin namens Joanne Rowling ein Buch, das keiner wollte – und das dennoch Menschen über Generationen hinweg ins Fieber stürzt. Auf den Spuren eines gigantischen Erfolgs.

Nadine A. Brügger 14 min
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In vielen grossen Städten geschah in der Nacht vom 13. auf den 14. Oktober 2000 etwas Kurioses: Tausende von Menschen versammelten sich vor Buchläden. Kinder und ihre Eltern, Teenager und ihre Freunde. Manche trugen spitze Hüte oder schwarze Umhänge, andere einfache Reisbesen. Auch Taschenlampen waren zu sehen. Denn all die Menschen waren gekommen, um zu lesen. Namentlich den vierten Band von J. K. Rowlings Jahrhundertwurf: «Harry Potter».

Als die Glocken Mitternacht schlugen, eröffneten Buchhändlerinnen von Wien bis Bern und von Hamburg bis Chur unter Jubel und Applaus den Verkauf. Augenblicklich begannen die gigantischen Bücherstapel zu schrumpfen.

Mit Band vier war die globale «Potter-Mania» endgültig auf den deutschsprachigen Raum übergeschwappt. Eine Million Bücher betrug die Startauflage der deutschen Ausgabe von «Harry Potter und der Feuerkelch». Die Hälfte davon wurde in dieser ersten Nacht verkauft – und das Buch damit zum weltweiten Bestseller. Denn die Welt war süchtig. Süchtig nach der Geschichte, süchtig nach der Magie und nach einer Welt, die Millionen von Kindern, Teenagern und Erwachsenen bis heute zum Zufluchtsort geworden ist.

Harry Potter hat die ausgehenden neunziger Jahre geprägt und uns ins neue Jahrtausend begleitet. Der Waisenjunge mit Zauberkräften hat Vokabular und Selbstverständnis mehrerer Generationen geformt. Ein Graffiti in Polen etwa zeigt den ukrainischen Präsidenten Selenski als Harry Potter. Die Bedeutung versteht man über die Sprachgrenze hinweg: Er ist der Gute.

Teil der Zeitgeschichte: In Polen hat ein Graffiti-Künstler Wolodimir Selenski als Harry Potter, als Gesicht des Guten, das siegen muss, an eine Wand gesprayt.

Teil der Zeitgeschichte: In Polen hat ein Graffiti-Künstler Wolodimir Selenski als Harry Potter, als Gesicht des Guten, das siegen muss, an eine Wand gesprayt.

Lukasz Gdak / Imago

Harry Potter ist zu einer Figur der Zeitgeschichte geworden. Dabei hätte die Geschichte von Harry und seiner Schöpferin ganz anders kommen können.

Ein Buch, das keiner wollte

Im Frühsommer 1997 wurden in Grossbritannien 500 Büchlein gedruckt und mit dünnen Pappdeckeln versehen. Auf den Seiten entspann sich ein Mix aus Fantasy-, Internats- und Abenteuerroman.

300 Stück gingen an englische Schulbibliotheken, 200 in den Verkauf, von dem man sich beim britischen Bloomsbury-Verlag wenig versprach. So oder so hatte der Verlagsleiter dem Druck nur seiner achtjährigen Tochter zuliebe zugestimmt. Vor ihm hatten bereits mehr als ein Dutzend Verlage abgewinkt. Aber das Kind wollte unbedingt weiterlesen, und so sicherte sich der Vater die Rechte an der Serie, die zu einem Stück Literaturgeschichte werden sollte.

Wer heute über eines jener 500 Büchlein verfügt, sitzt auf einem Vermögen. Für 471 000 Dollar ging im Dezember des vergangenen Jahres eine der raren Erstausgaben an einen Sammler. Das Buch, das keiner wollte, wurde in 80 Sprachen übersetzt und mehr als 500 Millionen Mal verkauft. Alle sieben Bände von «Harry Potter» gehören in Bibliotheken und Buchhandlungen zur Grundausstattung. Die Autorin, für die erste Auflage noch mit 1500 Pfund vergolten, gehört heute zu den Reichsten der Welt.

Der Anfang

Noch im selben Jahr, in dem die 500 Büchlein in England in Druck gingen, kaufte der deutsche Carlsen-Verlag die Übersetzungsrechte für die ersten drei Bände. Rowling hätte am liebsten die Rechte für alle sieben Bände vergeben, die sie zu schreiben plante. Doch ein solches Risiko wollte der Carlsen-Verlag nicht eingehen. Zwar war das Interesse an Harry, Hogwarts und der Zaubererwelt im englischen Sprachraum unerwartet angestiegen – für den Carlsen-Verlag blieb die Zusage allerdings ein Wagnis.

Wer wusste schon, ob die unbekannte Britin wirklich schrieb, was sie versprach? Und ob Schweizer, Österreicher und Deutsche diese Geschichte um einen Waisenjungen im Zauberinternat ebenso mochten wie Briten und Amerikaner?

Die Geschichte

Harry ist noch ein Baby, als der Fluch des dunklen Magiers Lord Voldemort ihn trifft. Doch statt ihn zu töten, wie seine Eltern wenige Augenblicke zuvor, hinterlässt der Spruch nur eine blitzförmige Narbe auf Harrys Stirn. Die gesamte Wucht des Fluches prallt an dem Kleinkind ab und fällt auf den Täter zurück. Lord Voldemort, das Grauenvollste, was die Zaubererwelt je gesehen hat, fällt ihn sich zusammen – und der Junge, den er zur Waise gemacht hat, wird berühmt. «Jedes Kind auf der Welt wird seinen Namen kennen», flüstert eine Hexe ehrfürchtig.

Davon weiss Harry die ersten elf miserablen Jahre seines Lebens, die er bei der Familie seiner boshaften Tante verbringt, allerdings nichts. Erst als ein überaus exakt adressierter Brief eintrifft, wird sein Leben magisch. Der Halbriese Hagrid holt Harry ab und führt ihn in die Welt der Zauberer und Hexen.

Harry kauft alles, was man zum Zaubern braucht, in der Winkelgasse, gibt sein Gold in die Obhut der Kobolde der Gringotts Bank, liest im «Daily Prophet», was in der magischen Welt passiert, und lernt beim Ministerium für Zauberei, was Beamte sind. Im Zauberinternat Hogwarts findet Harry ein Zuhause, in Ron und Hermine beste Freunde und in seiner eigenen Geschichte einen immer klareren Sinn. Denn Lord Voldemort ist nicht tot. Und jeder Band – gefüllt mit neuen Abenteuern und Geheimnissen – bringt das finale Zusammentreffen von Harry und Voldemort, den Entscheid zwischen Gut und Böse, näher.

Verschlüsselte E-Mails und falsche Freunde

«Mr. und Mrs. Dursley im Ligusterweg Nummer 4 waren stolz darauf, ganz und gar normal zu sein, sehr stolz sogar. Niemand wäre auf die Idee gekommen, sie könnten sich in eine merkwürdige und geheimnisvolle Geschichte verstricken, denn mit solchem Unsinn wollten sie nichts zu tun haben.»

Mit diesen Worten beginnt die Geschichte von Harry Potter. Geschrieben hat sie so, auf Deutsch, der Übersetzer Klaus Fritz. Fritz, von Haus aus Sozialwissenschafter und Philosoph, übersetzte am Anfang seiner Karriere Sachbücher. Als der Carlsen-Verlag ihn für ein Jugendbuch anfragte, hatte Fritz nicht die geringste Ahnung, worauf er sich einlassen würde. «Klar», sagt er, «ich fand das eine schöne Geschichte. Sonst hätte ich nicht zugesagt. Aber all das . . . damit hätte ich nie gerechnet.»

«All das» sind: verschlüsselte E-Mails, höchste Geheimhaltung, Lesetour mit der Autorin J. K. Rowling, die von ihren Fans wie ein Rockstar gefeiert wird. Wochen, während denen Fritz in die Welt der Zauberei abtaucht, um die Übersetzung innert kürzester Zeit fertigzubekommen, und mit niemandem sprechen darf, ausser mit seiner Frau.

Geschafft: Die Autorin J. K. Rowling hält im Juli 2007 den siebten und letzten «Potter»-Band ins Bild. Sie feiert das Erscheinen des Buches zusammen mit Fans im Naturhistorischen Museum in London.

Geschafft: Die Autorin J. K. Rowling hält im Juli 2007 den siebten und letzten «Potter»-Band ins Bild. Sie feiert das Erscheinen des Buches zusammen mit Fans im Naturhistorischen Museum in London.

Alessia Pierdomenico / Reuters

Wenn es bei einem Projekt schnell gehen muss, werden normalerweise mehrere Übersetzer angestellt. Doch Fritz stemmt Band eins bis sieben allein. Für die von Rowling erfundenen Wörter aus dem magischen Vokabular gab es im Deutschen zudem kein passendes Gegenstück. Aus Fritz, dem Übersetzer, musste darum Fritz, der Wortschöpfer, werden. Für diese Leistung gewann der ehemalige Sachbuch-Übersetzer 2001 den Deutschen Phantastik-Preis.

Von der Diagonal-Allee zur Winkelgasse

«Diagon Alley», las Fritz. Diagonal-Allee? Nein. «Alley» ist ein sogenannter falscher Freund: Übersetzt auf Deutsch heisst es nämlich «Gasse». Aber auch Diagonal-Gasse stellte Fritz nicht zufrieden. «Ich habe das «diagonal» mit einem Winkel assoziiert. Und weil die Einkaufsmeile der Zauberer in der Altstadt von London liegt, war ‹verwinkelt› passend», erklärt Fritz. Die Winkelgasse war geboren.

Anders als der französische Kollege, der die schottische Zauberschule Hogwarts kurzerhand in «Poudlard» umtaufte, beliess Fritz allerdings viele Eigennamen auf Englisch. Die strenge Verwandlungslehrerin Professor McGonagall etwa behielt ihren schottischen Nachnamen, ebenso die verträumte Luna Lovegood. Die britische Atmosphäre, sagt Fritz, sei doch eben gerade «Teil des Erfolgsrezepts».

Noch während Fritz übersetzt, schwappen aus den USA Gerüchte von ausverkauften Lesungen in riesigen Fussballstadien über den Atlantik.

«Potter» nimmt Fahrt auf

Kurz bevor das neue Jahrtausend beginnt, realisiert man beim Carlsen-Verlag, was für ein Coup das britische Wagnis ist. Nachdem der Verlag die Startauflage für den ersten Band auf 8000 Stück festgelegt hatte, waren es bei Band zwei bereits 25 000. Band drei startete mit 30 000.

Überstieg der Erfolg der ersten drei Bände bereits alle Erwartungen des Carlsen-Verlags, sprengt Band vier seine Möglichkeiten: Eine Million soll die Startauflage im Jahr 2000 betragen. «Aber es gab in Deutschland gar nicht genug Druckkapazitäten. Wir mussten ja nicht nur Band vier neu drucken, sondern auch die vorherigen Werke nachdrucken lassen», erklärt Katrin Hogrebe, damals und auch heute für «Potter» verantwortliche Sprecherin beim Carlsen-Verlag.

Quer durch Europa sucht der Verlag nach freien Druckereien. In Spanien, Italien und Tschechien wird man fündig. Doch dann geht das Papier aus. «Wenn man den dritten Band sucht, findet man ihn in verschiedensten Papierqualitäten – wir mussten damals einfach mit dem drucken, was wir bekommen konnten», sagt Hogrebe.

Kaum bezahlt und bereits aufgeschlagen: «Harry Potter»-Fans lesen 2007 die ersten Seiten des letzten Buches, «Harry Potter und die Heiligtümer des Todes».

Kaum bezahlt und bereits aufgeschlagen: «Harry Potter»-Fans lesen 2007 die ersten Seiten des letzten Buches, «Harry Potter und die Heiligtümer des Todes».

Sang Tan / AP

Für Band vier legt der Carlsen-Verlag erstmals ein Startdatum für den Verkauf fest: Kein Buch darf vor dem 14. Oktober 2000, 00 Uhr 01, über den Ladentisch gehen.

Um sicherzustellen, dass keine Informationen durchsickern, müssen Buchhändler und alle, die an der Produktion beteiligt sind, Geheimhaltungsverträge unterzeichnen. Das fordert die Autorin Rowling.

Eine Sozialhilfeempfängerin wird berühmt

Zu den Buchhandlungen, die einen der Geheimhaltungsverträge unterschrieben haben, gehört auch jene von Renate Engesser. «Harry Potter»? «Das Beste, was es für den Buchhandel je gegeben hat», sagt sie, ohne nachzudenken. Das habe sich allerdings erst ab dem vierten Band abgezeichnet. Band eins bis drei musste sie noch anpreisen: «Ich sagte der Kundschaft, dass das endlich mal wieder ein Buch ist, das für Mädchen und Jungs gleichermassen funktioniert.»

Je besser die Bücher sich verkauften, umso neugieriger wurden die Menschen auf die Frau, die sie geschrieben hatte.

J. K. Rowling sass im Zug, als Harry Potter, wie sie selber sagt, durch das Rattern der Räder «zu mir kam». Doch bevor Harrys Abenteuer beginnen konnten, hatte Rowling noch ein eigenes zu bestehen: Sie heiratete einen portugiesischen Journalisten, gab in ihrer Heimat Schottland alles auf, zog zu ihm nach Portugal, bekam eine Tochter, liess sich scheiden und kehrte als praktisch mittellose, alleinerziehende Mutter nach Edinburg zurück. Dort frass sich oftmals die feuchte schottische Kälte in Rowlings kleine Wohnung, weil das Geld der Sozialhilfe nicht immer zum Essen und Heizen reichte.

Jahre später stand die ehemalige Sozialhilfeempfängerin als Rednerin vor den Absolventen der Eliteuniversität Harvard. «Armut bedeutet tausend kleine Demütigungen und Entbehrungen», sagte Rowling in ihrer Festrede, «sich aus eigener Kraft aus der Armut zu befreien, ist etwas, worauf man stolz sein kann.» Rowling gelang genau das kraft ihrer Phantasie und Hartnäckigkeit. Stundenlang sass sie dafür in Edinburg in einem kleinen Café namens «Elephant House», heute eine Pilgerstätte für «Potter»-Fans.

Früher das Buch, heute das iPhone

Spätestens ab dem Jahr 2000 wollen auch alle in der Schweiz lesen, womit die Sozialhilfeempfängerin zur Millionärin geworden ist. «Ein guter Kunde von mir kam jeden Tag und fragte: ‹Hast du jetzt den vierten Band?›» Engesser lacht. Sie habe Nein gesagt. Dabei lagen im Keller 3000 Exemplare von «Harry Potter und der Feuerkelch», sicher verpackt in einem abgeschlossenen Teil und mit der Verpflichtung versehen, die Bücher keine Sekunde vor Mitternacht anzupreisen.

Wird heute eine Nacht lang für das neuste iPhone vor dem Apple Store campiert, taten die Leute damals das Gleiche für ein Buch. Sie kamen allerdings nicht nur mit Vorfreude und ihrem Portemonnaie, sie kamen mit Requisiten, selbstgebastelten Verkleidungen und allem, was die Phantasie hergab.

Im Millenniumjahr 2000 belegten die ersten drei «Harry Potter»-Bücher die ersten drei Plätze der «New York Times»- und der «Spiegel»-Bestsellerliste. Jedes weitere «Potter»-Buch folgt direkt auf Platz eins.

Mit Harry Potter liess sich Geld verdienen. Erst mit den Büchern, später mit einer Auswahl an Fan-Artikeln, die ganze Geschäfte füllen konnten: Tassen, Sticker, Bettwäsche, Kleider, Kochbücher, Videospiele, Zauberstäbe, Lego-Figuren, Brett- und Kartenspiele. Als das Theaterstück «Harry Potter und das verwunschene Kind» in London uraufgeführt wurde, waren die Karten dafür innert Sekunden ausverkauft.

Du sollst nicht «Harry Potter» lesen

Der rauschende Erfolg allerdings weckte auch Widerstand. Die deutsche Publizistin Gabriele Kuby schrieb: «‹Harry Potter› ist ein globales Langzeitprojekt zur Veränderung der Kultur. Mit der Verharmlosung von Magie dringen die Kräfte in die Gesellschaft ein, die das Christentum einst überwunden hat.» Harry Potter konkurrenzierte Gott.

Das sah auch der Präfekt der Kongregation für die Glaubenslehre, ein deutscher Kardinal namens Joseph Ratzinger, so. Es sei gut, schrieb der spätere Papst Benedikt XVI. der Publizistin, dass sie «in Sachen Harry Potter» aufkläre, «denn dies sind subtile Verführungen, die unmerklich und gerade dadurch tief wirken und das Christentum in der Seele zersetzen, ehe es überhaupt recht wachsen konnte». So zumindest steht es auf Kubys Website. Und so dachten auch zahlreiche gläubige Christen im amerikanischen Bible-Belt, die die «Harry Potter»-Reihe kurzerhand verboten – und damit umso faszinierender machten.

Emma Watson als Hermine Granger, Rupert Grint als Ron Weasley und Daniel Radcliffe als Harry Potter.

Emma Watson als Hermine Granger, Rupert Grint als Ron Weasley und Daniel Radcliffe als Harry Potter.

Imago

Warum Harry Potter fasziniert

Gebraucht hätte es kein Verbot, um aus Harry Potter einen Hype zu machen. Aber was war es dann?

Jürgen Ronthaler ist Anglist und promovierte zu Shakespeare. Er war 45 Jahre alt, als er sich am Münchner Flughafen «Harry Potter und der Stein der Weisen» kaufte. Dabei hatte er eigentlich nicht auch noch auf den Hogwarts-Hype aufspringen wollen.

«Aber dann hab ich das Buch im Zug von München zurück nach Leipzig verschlungen. Dieses Feuerwerk an Einfällen, die Märchenstruktur, der Humor mit Referenzen etwa an Monty Python – ich wusste sofort: Das muss ich an der Uni behandeln.»

Das erste Seminar war rappelvoll. Auch als Ronthaler Jahre später erneut zu Potter referierte, kamen rund 600 Studierende – an einem Freitagabend. «Harry Potter funktioniert», sagt Ronthaler. Eine Rolle spielte dabei auch das Timing.

«Der Kalte Krieg war zu Ende, der Blockgedanke weg, und erstmals seit langem bestand überhaupt wieder die Möglichkeit eines tatsächlich weltweiten Erfolgs.»

«Der Kalte Krieg war zu Ende, der Blockgedanke weg, und erstmals seit langem bestand wieder die Möglichkeit eines tatsächlich weltweiten Erfolgs», erklärt Ronthaler. Früher hätte ein Harry Potter also nicht kommen können. Und später? Wäre der Erfolg mit Katalysatoren wie Social Media noch gigantischer geworden?

Ronthaler schüttelt den Kopf: «Nein, grösser wäre der Erfolg nicht geworden, das geht kaum noch. Aber er wäre wohl schneller und in vielen Erdteilen gleichzeitig gekommen.»

Die Zutaten für den Erfolg

Grund für die globale Identifikation mit Harry Potter sei vor allem die Tatsache, dass die Autorin erfolgreiche Einzelelemente verbinde. Da ist der Kriminalroman, in dessen Rahmen Harry Band für Band zusammen mit seinen beiden Freunden ein Rätsel löst.

Weil Harry die magische Welt gemeinsam mit den Lesenden entdeckt, kommen Aspekte eines Abenteuerromans hinzu. Auch gruselige Elemente, wie sie eine Gothic Novel kennt, spielen mehr und mehr hinein, je älter Harry wird. Dazu kommt der typisch britische Schulroman. Eine literarische Form, die sich zusammen mit dem britischen Empire und dem dazugehörigen Schulsystem weltweit verbreiten konnte. Zur Internatsgeschichte gehört das Älter- und damit auch Erwachsenwerden, Coming-of-Age also.

«Und dann kommt natürlich Harry, der Aussenseiter, der erfolgreich sein darf, der dazugehören darf und der gewinnt, ohne perfekt zu sein. All diese Faktoren machen die Geschichte für so viele Menschen zum Lockmittel. Mit den Themenparks oder mitternächtlichen Buchverkäufen sind auch noch alle Kommerzmächte zusammengetreten. Auf dieser Klaviatur hat Rowling bestens gespielt», sagt Ronthaler. «Harry Potter ist wie der Papst oder die Queen – egal, ob man ihn gut findet oder nicht: Man kennt ihn.»

Die Zauberschule Hogwarts und das Zaubererdorf Hogsmead können besucht werden – zum Beispiel in diesem Harry-Potter-Themenpark in Peking, China.

Die Zauberschule Hogwarts und das Zaubererdorf Hogsmead können besucht werden – zum Beispiel in diesem Harry-Potter-Themenpark in Peking, China.

Kevin Frayer / Getty

Hollywood ruft

Wer so bekannt ist wie der Papst und die Queen, der schafft es auch in Hollywood. 1998 kaufte die amerikanische Filmgesellschaft Warner Bros. Entertainment Inc. die Filmrechte für den ersten Band. Chris Columbus wurde als Regisseur verpflichtet, und man begann, in den Reihen von Englands Besten geeignete Darsteller zu suchen.

Dass keine amerikanischen Schauspieler mit von der Partie sind, war eine von Rowlings Bedingungen. Obwohl eine amerikanische Produktionsfirma dahinterstand, sollten die Buchverfilmungen so authentisch, also britisch, wie möglich werden. Aus etablierten Grössen wie Maggie Smith, Richard Harris, Alan Rickman, Ralph Fiennes oder Helena Bonham-Carter wurden Figuren der Zaubererwelt.

Für einmal bestand die Schwierigkeit beim Casting allerdings nicht darin, die grossen Namen zu holen, sondern ganz im Gegenteil: die kleinen Darsteller zu finden.

Millionen hatten bereits ein Bild im Kopf von diesem Jungen mit der Narbe, den grünen Augen und dem verstrubbelten schwarzen Haar. Schliesslich stiessen die Filmemacher auf Daniel Radcliffe. Blauäugig zwar, doch das runde Gesicht, die dunklen Haare: Das war ein Harry. Bloss: Radcliffes Vater wollte erst um jeden Preis verhindern, dass sein Sohn als Harry Potter zum Kinderstar wird.

Als das Casting-Team sich für Emma Watson als kluge Hexe Hermine entschied, war die Autorin Rowling dagegen. «Zu hübsch», befand sie. Dann aber rief die Elfjährige sie an, bombardierte ihr Idol mit Fragen und «war einfach Hermine», wie Rowling später erzählte.

Einfacher war die Besetzung des rothaarigen, rotzfrechen Rupert Grint als Harrys bester Freund Ronald Weasley. Grint, der sich aus seinem ersten grossen Lohn einen Glace-Wagen kaufte und während der Dreharbeiten regelmässig die Crew zum Lachen brachte, musste Ron kaum spielen – die Rolle scheint ihm auf den Leib geschnitten.

Als «Der Stein der Weisen» 2001 ins Kino kommt, wird er zum erfolgreichsten Film des Jahres, in Deutschland gar zum erfolgreichsten Film des Jahrzehnts. Knapp eine Milliarde Dollar spielt der erste Film weltweit ein. Insgesamt wurden aus den sieben Büchern acht Kinofilme, die weltweit rund 7,8 Milliarden Dollar einspielten. Eine weitere Kinofilmreihe, die sich an Harry Potters Schulbücher anlehnt, wird gerade realisiert.

Trailer zu «Harry Potter und der Stein der Weisen».

Youtube / Warner Bros. Entertainment Inc

Wer bei «Harry Potter» Schweizerdeutsch spricht

Doch Bücher und Filme reichten nicht: 1999 veröffentlicht der Hörbuchverlag «Harry Potter und der Stein der Weisen» auf sechs Kassetten, gelesen von Rufus Beck. Erwachsene kennen Beck zu diesem Zeitpunkt als Schauspieler beim «Tatort» oder in «Der bewegte Mann», Kinder als Magier und Erzähler im Rock’n’Roll-Musical «Tabaluga».

Dann kommt die Anfrage für «Harry Potter». «Entzückend», findet Beck, selbst ehemaliger Internatsschüler, nachdem er die Übersetzung von Klaus Fritz gelesen hat. Weil es sich um eine so unbekannte Sache handelte, beschliesst Beck, nicht nur professioneller Sprecher, sondern auch studierter Ethnologe, bei «Potter» ein Experiment zu wagen: Er gibt den Figuren eigene Dialekte und Akzente. Kölsch, Hessisch, Bayrisch und auch «Dialekte aus meiner ureigensten Phantasie».

Der verhasste Professor Snape etwa spricht in einem slawisch angehauchten Singsang. Die Stimme des alten und weisen Schulleiters Albus Dumbledore ist tief und teilweise brüchig. Man soll ihr die Jahrzehnte anhören.

Madame Rosmerta, die schöne Wirtin der warmen, aufgeräumten Kneipe «Drei Besen», spricht mit einem Schweizer Akzent. «Mit dem Schweizerdeutsch verbindet man – zumindest in Deutschland – Ordentlichkeit, aber auch Ruhe», erklärt Beck.

Wie die Bücher und Filme brechen auch die Hörbücher alle Rekorde: Die Hörbücher eins bis vier werden mit der Platin-Schallplatte für 300 000 verkaufte Exemplare ausgezeichnet, ab Buch fünf folgt die Goldene Schallplatte.

Rufus Beck an der Erfurter Herbstlese 2019.

Rufus Beck an der Erfurter Herbstlese 2019.

Holger John / Imago

Eine Ära geht zu Ende

«Und alles war gut», notiert der Übersetzer Fritz 2007. Es ist der letzte Satz des letzten Kapitels des letzten «Harry Potter»-Buches. Zehn Jahre nachdem er die ersten Worte übersetzt hat, ist die Reise zu Ende. «Ein Glücksmoment», sagt Fritz. So gepackt hat ihn diese Geschichte, dass er sich das Ende – entgegen seiner strengen Übersetzergewohnheit – aufgespart hat: Er wollte sich nicht bereits beim ersten Querlesen die Spannung nehmen lassen von diesem Buch, das «so viel mehr ist als einfach nur Fantasy».

Als «Harry Potter und die Heiligtümer des Todes» am 27. Oktober 2007 erscheint, liegt eine deutsche Startauflage von drei Millionen Büchern bereit.

Aus den 500 Büchlein mit dünnem Pappdeckel, die auf Wunsch einer Achtjährigen und ohne grosse Erwartungen gedruckt worden sind, ist ein weltweites Phänomen geworden.

Nun reihen sich die «Harry Potter»-Jubiläen aneinander: Ein Vierteljahrhundert ist vergangen, seit das erste Buch gedruckt worden ist. 15 Jahre, seit der letzte Band publiziert worden ist, 20 Jahre, seit der erste Film auf die Leinwand kam. Zur Feier des Runden lud der Produzent Warner Brothers alle Darsteller von damals zurück ins Hogwarts-Studio ein. Entstanden ist die Dokumentation «Return to Hogwarts», ein nostalgischer Rückblick auf die Zeiten, an die man sich im Buchhandel und im Kino als «die glorreichen» erinnert.

Zurück nach Hogwarts

Da standen sie plötzlich alle wieder. Neben der peitschenden Weide, im Gryffindor-Gemeinschaftsraum und vor Hagrids runder Hütte: Helena Bonham-Carter, Robbie Coltrane, Maggie Smith oder Ralph Fiennes.

Emma Watson, damals die schlaue Hermine und heute Uno-Sonderbotschafterin für Frauenrechte, vergoss ob dem Wiedersehen Freudentränen. Rupert Grint, der den frechen Schulbuben Ron gegeben hatte, ist mittlerweile Vater. Und Harry – Daniel Radcliffe, Charakterkopf und Theaterschauspieler – nimmt die Fans ein letztes Mal mit in seine magische Welt. Filmstars sind die drei als Erwachsene trotz weiteren Kinofilmen nicht geworden. Zu sehr sind sie für eine ganze Generation mit Hogwarts und der Zaubererwelt verbunden.

Ändern wird sich das so schnell nicht. «Jetzt ist wieder ein grosser Boom», sagt Buchhändlerin Engesser. Die Verkaufszahlen aller «Potter»-Bücher steigen wieder. Die nächste Generation entdeckt Harry Potter.

20 Jahre nachdem der erste «Harry Potter»-Film in die Kinos gekommen ist, trafen die Darsteller sich erneut in Hogwarts.

Youtube / Warner Bros. Entertainment Inc
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