Denken heisst sich öffnen und improvisieren: Was vom grossen französischen Ethnologen Claude Lévi-Strauss bleibt

Der rigide Strukturalismus, den Claude Lévi-Strauss mitbegründete, ist heute ausserhalb des akademischen Betriebs vergessen. Wohl zu Recht. Doch die Faszinationskraft von Lévi-Strauss’ Denken liegt woanders – und ist höchst aktuell.

Hans Ulrich Gumbrecht
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«Urbane Magie»: Claude Lévi-Strauss.

«Urbane Magie»: Claude Lévi-Strauss.

Effigie / Bridgeman

Anfang 1967, als ich das Glück hatte, für ein paar Monate Gastschüler am Lycée Henri IV in Paris zu sein, wurde kein Name unter den Intellektuellen so hoch gehandelt wie der von Claude Lévi-Strauss. Man stand im Bann des Strukturalismus, und Lévi-Strauss war der Inbegriff dieser Faszination, die jahrzehntelang für heisse Theoriedebatten sorgen sollte und alle Varianten des bis dahin dominierenden Marxismus herausforderte.

Gut fünfzig Jahre später ist die ehemals so inspirierende Kraft des Strukturalismus verflogen und zur blossen Erinnerung an eine ferne Phase der Geistesgeschichte geworden. Gerade solche Distanz impliziert aber das Potenzial, einen neuen, durchaus anderen Claude Lévi-Strauss zu entdecken, einen Lévi-Strauss intellektueller Offenheit und Improvisation, der uns zur Rebellion gegen das gegenwärtige Klima moralisch verhärteter Debatten anstiften kann.

Das Leben in Frankreich

Jene beiden Vorzeichen des Denkens – eben Offenheit und Improvisation – gehörten zum Stil der jüdischen Bourgeoisie Frankreichs, aus der Lévi-Strauss kam. Ausgelöst von zwei Begegnungen in seinem Leben steigerte sich ihre Wirkung zu einer Intensität, der die Nachwelt nicht nur bis heute wichtige Innovationen der Sozial- und Geisteswissenschaften verdankt, sondern wahrhaft grosse intellektuelle Momente im epochalen Sinn.

1908 in Brüssel geboren, war Lévi-Strauss in Paris aufgewachsen und verbrachte die Jahre des Ersten Weltkriegs bei seinem Grossvater, dem Rabbiner der Synagoge von Versailles, vor dem er sich nicht zu einer religiösen Existenz verpflichtet fühlte. Er durfte ersten Einflüssen in Freiheit begegnen. Die akademischen Studien der Philosophie und des Rechts hingegen beeindruckten ihn so wenig wie die in einem französischen Intellektuellenleben bis heute typischen Stellen als Lehrer an mehreren Lycées. Nicht die Lehrsätze der Vergangenheit beflügelten seine Imagination, sondern Szenen des Grossstadt-Alltags: «Busse hatten damals eine offene Plattform, und ich setzte mich nach aussen, so dass ich erleben konnte, wie sich eine Strassenseite in den Ladenfenstern der anderen spiegelte und mit einem Mal in Weite umschlug. Diese urbane Magie bereicherte mich.»

Die Abenteuer in Brasilien und Amerika

1932 heiratete Lévi-Strauss die Ethnologin Dina Dreyfus und folgte ihr 1935 an die neu gegründete Universität von São Paulo, deren Entwicklung der französische Staat im Rahmen einer «Mission culturelle» förderte. Aus dem Zufall der folgenden Auslandjahre, an denen ihm zunächst kaum gelegen war, entstand eine zentrale intellektuelle Leidenschaft.

Lévi-Strauss begleitete seine Frau auf Reisen zur Erforschung archaischer Kulturen ins Innere Brasiliens und nahm mit wachsender Begeisterung an ihrer Arbeit teil, ohne selbst je eine formelle Ethnologen-Ausbildung zu absolvieren. 1939 kehrten die beiden in die Heimat zurück, und nur ein Jahr später trennten sich ihre Wege für immer. Dina beschloss nach der Kapitulation Frankreichs, im Untergrund Widerstand zu leisten; Claude fügte sich der Ausweisung als Jude seitens der vom Nationalsozialismus kontrollierten Regierung und wanderte über Umwege nach New York aus.

Geblieben war dem akademisch noch ganz Namenlosen seine neue Passion, die er im Kreis des grossen Ethnologen Franz Boas an der Columbia University weiterverfolgte. Dass Boas nach den Worten von Augenzeugen 1942 «in den Armen von Lévi-Strauss starb», macht eines der für Lévi-Strauss ebenso typischen wie unerklärlichen Ereignisse aus.

Vor allem aber schloss der gar nicht mehr so junge Mann in New York Freundschaft mit dem als Linguisten bereits prominenten russischen Emigranten Roman Jakobson, obwohl – oder vielleicht gerade weil – er sich vorher mit der Sprachwissenschaft kaum beschäftigt hatte. Dass Jakobson ihn mit dem Strukturalismus als einem Denkmuster vertraut machte, das noch nicht in der Ethnologie erprobt worden war, machte ihre Gespräche zur zweiten entscheidenden Begegnung für Lévi-Strauss – einmal abgesehen von der Einführung in die «besten chinesischen, griechischen und armenischen Restaurants».

Der Start einer unglaublichen Karriere

Erst als er 1948 im vierzigsten Lebensjahr nach Paris zurückkehrte, begann seine einzigartig brillante – und eigenartig kurze – akademische Karriere mit einem Buch über «Elementare Strukturen der Verwandtschaft». Darin brachte Lévi-Strauss die Aussen-Impulse der ethnologischen Forschung seiner ehemaligen Frau und des sprachwissenschaftlichen Systemdenkens seines Freundes Jakobson zu – einer vorerst improvisierenden – Überschneidung.

Es ging um den zugleich mit mathematischem Ernst und mit Experimentierfreude unternommenen Versuch, eine schier unendliche Vielfalt widersprüchlicher Vorschriften und Tabus der Verwandtschaftsbeziehung aus verschiedenen Kulturen (vom allgegenwärtigen Inzestverbot bis zu hochkomplizierten Regeln für die Heirat unter Geschwisterkindern) auf eine Matrix von Regeln zurückzuführen, die der Grammatik einer natürlichen Sprache ähneln sollten.

Lévi-Strauss und seine zeitgenössischen Leser schrieben solchen Regeln und Strukturen einen wissenschaftlichen Objektivitätsstatus zu. Heute hingegen fühlt man sich eher geneigt, die flexible Vorstellungskraft zu bewundern, mit der er seine Selbst-Vorgabe einlöste. Aus dem Nachzeichnen – oder dem Erfinden – solcher «Logiken» ergaben sich dann Thesen über ihre Funktion, im Fall der Verwandtschaftsverhältnisse etwa die eher vage Vermutung, dass sie einen Austausch zwischen verschiedenen sozialen Gruppen und mithin ihr Zusammenleben in friedlichen Beziehungen ermöglichten.

Die Geburt des Strukturalismus

Beide Schritte, die Induktion kompakter Regelsysteme und die Ableitung von sozialen Funktionen, machten den Strukturalismus als nicht mehr nur linguistische, sondern disziplinenübergreifende Theorie aus, der Lévi-Strauss in einer 1958 veröffentlichten Aufsatzsammlung unter dem Titel «Anthropologie structurale» eine anfangs wohl gar nicht angestrebte Verbindlichkeit als Paradigma gab. Vier Jahre später folgte «La pensée sauvage» als bereits letzte akademische Monografie, deren Titel mit der doppelten Bedeutung des französischen Worts «pensée» in Bezug auf «Denken» und auf die im Deutschen «Stiefmütterchen» genannten Blume spielte.

Hier stellte Lévi-Strauss den damals noch selbstverständlichen Glauben an die Überlegenheit des «rationalen» westlichen gegenüber Formen von «exotisch attraktivem», aber vermeintlich «primitivem» Denken infrage. Damit nahm er mit der Offenheit experimenteller Argumente eine Debatte vorweg, die uns mittlerweile in den versteinerten Positionen der politischen Fanatismen heimsucht.

Das Opus magnum

Viel intensiver noch wirkt auf heutige Leser das 1955 erschienene Buch «Tristes Tropiques», eine autobiografische Erzählung, in der Lévi-Strauss mit gelassener Eleganz seine Erlebnisse in Brasilien und in den Vereinigten Staaten von 1935 bis 1945 verdichtet. Ausgehend von der nach wenigen Seiten nicht weiterverfolgten Frage, warum ethnologische Materialien nach 1950 ein zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts nicht vorstellbares Interesse zu finden begannen, liess er seiner Beschreibungslust freien Lauf.

Dass «Tristes Tropiques» Ethnologen ermutigt hat, die Sphäre der eigenen Arbeit – oft allzu ausführlich – in ihre Analysen fremder Kulturen einzuschliessen, ist immer wieder als bedeutende Wirkung dieses Textes verbucht worden. Eine kühnere Lektüre könnte heute auch Träume von einer Ablösung der müde gewordenen Geisteswissenschaften durch einen deutlicher literarisch gefassten Stil geistiger Arbeit auslösen. Auch deshalb, weil uns Lévi-Strauss mit Darstellungen von São Paulo in den dreissiger Jahren beeindruckt, die Aspekte der Riesenstadt von heute vorwegnehmen.

Die Begegnung in Paris

Abwesend bleibt in seinem Buch über die beiden amerikanischen Kontinente – mit der Ausnahme einer einzigen beiläufigen Passage – Dina Lévi-Strauss. Das philologische Faktum verweist auf einen kühlen Egozentrismus der Perspektiven, der in der Arbeit ihres ehemaligen Mannes spezifische Kräfte freisetzte. Denn gerade dank subjektiver Brechung konkretisierte sich der Fluss des Erlebens von Lévi-Strauss immer wieder zu Ereignissen des Entdeckens und der Einsicht.

Statt die Welt zu interpretieren, wirkte er wie ein Katalysator, durch den sie Gestalt annahm, um ihn dann selbst ohne Gestalt oder Identität zurückzulassen, wie er 1982 in einem Interview andeutete: «Ich habe genau das Gefühl, dass die Bücher, die ich schreibe, die Vorträge, die ich halte, Ereignisse sind, die durch mich hindurchgehen und sich dann weiterentwickeln. Ich bin bloss der Durchgang einer Reihe von Dingen, die sich zwar in mir entwickeln, aber mich dann als Leere überschreiten. Ich habe absolut kein Gefühl von persönlicher Identität.»

2006, drei Jahre vor seinem Tod, wollte eine für Gäste zuständige Angestellte des Collège de France wissen, ob ich Wünsche für meinen Aufenthalt in Paris hatte, und ich wagte es, um ein Gespräch mit dem emeritierten Professor Lévi-Strauss zu bitten. Gegen alle Erwartungen war er zu einem Treffen bereit, und so begegnete ich dem Strukturalismus in der wachen Fragilität eines fast hundertjährigen Mannes. Von seiner Zeit in São Paulo hoffte ich zu hören, und Lévi-Strauss reagierte auf meine ersten Worte, als ob er mit einem Brasilianer spräche. Respektvoll hielt ich dagegen. Er ging in flüssiges Portugiesisch mit leisem Akzent über, und was blieb mir übrig, als eine halbe Stunde auf seine Fragen zur Metropole der Gegenwart zu antworten?

Vielleicht war dies einer von jenen merkwürdigen intellektuellen Momenten, die Claude Lévi-Strauss auszulösen vermochte. Mitten in Paris tauchte für uns ein São Paulo von 2006 auf, in seiner Besonderheit und als einer jener Kontraste innerhalb der Vielfalt von Kulturen, an der ihm zeitlebens gelegen war. Nicht im Sinn einer statischen «Identität», die irgendjemand besitzen, verherrlichen und für sich als Titel von Überlegenheit in Anspruch nehmen kann, wie es damals schon zur akademischen Übung wurde, sondern als «Ereignis», dessen «Durchgang» wir waren.

Vielleicht sollte es den Geisteswissenschaften in Zukunft mehr um solche Ereignisse von Vergegenwärtigung gehen, deren Konkretheit und Vielfalt betonierte Identitäten aufbrechen. Dahin allerdings führen keine Projekte oder Methoden. Eher wäre man auf den Stil von Öffnung und Improvisation angewiesen, mit dem Lévi-Strauss São Paulo erlebte – und anscheinend bis zum Ende des Lebens auch seine Gesprächspartner.

Hans Ulrich Gumbrecht ist Albert Guérard Professor Literature, Emeritus, an der Stanford University und Presidential Professor of Romance Literatures der Hebrew University, Jerusalem (2020–23).