Was hat sich Gerhard Richter bloss dabei gedacht, nach dem Holocaust noch Bilder zu malen?

Er gilt als der bedeutendste lebende Künstler. Sein äusserst vielfältiges wie vielschichtiges Werk zeigt warum.

Philipp Meier
Drucken

Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, sei barbarisch. Theodor W. Adorno hatte seine Aussage später als Reaktion auf Paul Celan relativiert. Denn dessen Dichtung ist gerade eben Dichtung nach dem Holocaust: Poesie aus der Unmöglichkeit heraus, noch dichten zu können. Wie steht es aber mit der Malerei? Müsste nicht auch sie im Grunde unmöglich geworden sein? Diese Frage ist dem Werk des deutschen, nichtjüdischen Künstlers Gerhard Richter inhärent und scheint in jedem einzelnen seiner Bilder auf, die jetzt in der Überblicksschau des Met Breuer in New York ausgestellt sind.

Gerhard Richter hatte sich 1961 aus der DDR in den Westen abgesetzt. In Dresden, wo er 1932 geboren war, als Maler dem Sozialistischen Realismus zu dienen, behagte ihm nicht. In der Freiheit, wo er malen konnte, wie er wollte, stellte sich ihm allerdings das Problem, wie man denn überhaupt noch malen könne. Dafür exemplarisch steht das erste in Westdeutschland entstandene Bild von 1962 mit einem Tisch nach einer Foto aus einem Design-Magazin.

In destruktivem Furor hat Richter das Motiv übermalt. «Tisch» stellt eine Tabula rasa mit allem Vorangegangenen dar und macht bildlich sichtbar, was der Künstler zuvor am eigenen Werk vollzogen hatte – Richter soll die meisten seiner in der DDR geschaffenen Bilder vor seiner Flucht verbrannt haben. Die Arbeit versinnbildlicht aber auch die Erkenntnis des Malers, dass es nach dem Grauen des Völkermords durch die Nazis unmöglich geworden war, wieder zum künstlerischen Alltag überzugehen. Und so radiert er das Sujet dieses Werks eben nicht völlig aus, um einfach neu anfangen zu können. Die weisse Tafel bleibt sichtbar unter der Übermalung.

Tiefer liegende Schichten in anderer Form finden sich in den darauf folgenden Porträts und Figurenbildern als verschattete Erinnerungsräume. Die vordergründige Idylle seiner nach Fotos ganz grau in grau gemalten Familienalben-Bilder täuscht. Da wäre etwa der lächelnde «Onkel Rudi» in Wehrmachtsuniform, ein Bild, das den kurz nach seiner Einberufung an der Ostfront gefallenen Bruder von Richters Mutter zeigt. Oder da wäre das Gemälde mit Richters Tante Marianne, die den Künstler als Kleinkind auf dem Arm hält: 1945 wurde Marianne Schönfelder wegen Schizophrenie-Diagnose im Rahmen des Euthanasieprogramms von den Nazis ermordet.

Gerhard Richter: «Onkel Rudi», 1965, Öl auf Leinwand (87×49,5×2,5 cm).

Gerhard Richter: «Onkel Rudi», 1965, Öl auf Leinwand (87×49,5×2,5 cm).

Lidice Memorial / Gerhard Richter 2019 (08102019)

Die Doppelbödigkeit dieser Bilder der sechziger Jahre gipfelt in dem Gruppenbildnis «Familie am Meer» nach einem Schnappschuss, der seine erste Frau Ema als Kind mit deren Eltern und Schwester zeigt. Das vermeintliche Nachkriegsglück erscheint auf diesem Bild besonders grotesk, weil Richter, als er es malte, noch nicht wusste, dass Emas Vater als Arzt am Euthanasieprogramm der Nazis beteiligt war. Dieser war in den sechziger Jahren, als das Bild entstand, längst wieder unbehelligt im westdeutschen Spitalwesen tätig.

Das Unmögliche malen

Die schiere Banalität des nach dem Zweiten Weltkrieg wieder die Normalität suchenden deutschen Alltags war für die Kunst eine Provokation. Porträtmalerei? Landschaftsmalerei? Wie sollte das alles noch möglich sein? Den Kopf darüber zerbrach sich Richter allerdings nicht. «Was haben Sie sich dabei gedacht?», fragt er sich selber einmal in einem Dokumentarfilm. Und antwortet: «Gar nichts», dies mit der angefügten Begründung, Malerei sei eine andere Sprache als jene des Denkens, und wenn er sich dabei etwas denken müsste, würde er nicht malen. Der Frage indes, was es denn bedeute, nach dem beispiellosen Zivilisationsbruch Künstler zu sein, geht Richter mit den Mitteln der Malerei auf den Grund.

Die Abstraktion, die nach dem Krieg viele Künstler wählten, ist für Richter aber erst einmal keine Option. Während einer persönlichen Krise zieht er sich 1972 nach Grönland zurück, ans Ende der Welt gleichsam, an den kältesten Ort auf Erden. Die dort gemachten Fotos würden ihm später für seine Seestücke dienen. Er beginnt das ewige Eis zu malen. Dies auch in Anlehnung an den grossen Maler der deutschen Romantik Caspar David Friedrich, der in seinem berühmten «Eismeer» mit den zerklüfteten, an ein sinkendes Schiffswrack erinnernden Eismassen die unerbittliche Natur als Katastrophe schilderte.

Richters Bilder von schwimmenden Eisschollen, die auf horizontlosem Meer treiben und sich im nächsten Moment im Nichts aufzulösen scheinen, versuchen die unmöglich gewordene Malerei selber zur Darstellung zu bringen. An diesem Punkt seines Schaffens kehrt auch wieder etwas Farbe in seine Bilder zurück.

Und er wagt einen weiteren Schritt: Ein Porträtbild seiner Tochter Betty entsteht – das Antlitz seines geliebten Kindes in leuchtenden Farben, voll von Blutrot, voller Leben. Allerdings erlaubt er sich nur ein bescheidenes Format, mehr Raum wagt er diesem Versuch nicht zu geben. Der Kopf des Kindes ist zur Seite gelegt wie jener eines Lamms auf der Schlachtbank. Das Mädchen schaut zu uns hoch in fast ängstlicher Erwartung, als könnte Richter das Sakrileg, im Bildnis seiner Tochter das Leben zu feiern, nur begehen, indem er sie als Opfer darreicht wie Abraham seinen Sohn Isaak.

Gerhard Richter: «Eis», 1981, Öl auf Leinwand (70×100 cm).

Gerhard Richter: «Eis», 1981, Öl auf Leinwand (70×100 cm).

Collection of Ruth McLoughlin, Monaco © Gerhard Richter 2019 (08102019)
Gerhard Richter: «Betty», 1977, Öl auf Leinwand (30×40 cm), Museum Ludwig, Köln.

Gerhard Richter: «Betty», 1977, Öl auf Leinwand (30×40 cm), Museum Ludwig, Köln.

Loan from private collection 2007 © Gerhard Richter 2019 (08102019)

Trotz dem Widerstand, den es zu überwinden bedeutet, ein Bild zu malen, bleibt Richter dem klassischen Kanon der abendländischen Malerei verpflichtet: Landschaft, Bildnis, Figurenbild. Über ein anderes Porträt von seiner Tochter hat sich indes ein Schleier gelegt wie ein opakes Glas. Auch seine das Vanitas-Motiv aufgreifenden Totenschädel malt er verschwommen. Später erinnern seine Madonna-und-Kind-Sujets mit seiner dritten Frau Sabine Moritz und Baby auf dem Arm an verpixelte oder gestörte Fernsehbilder. Diese Unschärfen erreicht Richter durch Verwischung der noch frischen Ölfarbe. Jede solche Geste kommt einer Negierung des Bildes gleich.

Kein abstrakter Maler

Um solche Negation geht es insbesondere auch in den abstrakten Arbeiten ab den achtziger und neunziger Jahren, die wesentlich zur Diskontinuität von Richters Werk beigetragen haben. Richter malt nun farbintensiv. Aber nur, um das Entstandene sogleich wieder durchzustreichen. Die aufgetragene Farbe wird mit einer Rakel weggeschabt, vermischt und abgezogen. Schichten von Farbe reissen auf, was dem Bild eine eigentümliche Tiefenstruktur verleiht.

Diese Strukturiertheit legt den Entstehungsvorgang des Bildes offen. Der Akt der Negation wird sichtbar. Wie die Dichtung Paul Celans, die sich in ihrem eigenen Sprachraum permanent auszulöschen droht und darin das Unsagbare aufscheinen lässt, sollen Richters abstrakte Bilder vor unseren Augen erscheinen als ihre eigene Unmöglichkeit.

Wiederholt hat Richter auch meterhohe Spiegel an die Wand gestellt. Wir stellen uns davor, und schon ist ein klassisches Porträtbild entstanden, ohne dass der Künstler einen Pinsel in die Hand genommen hätte. Seine Geste der Verweigerung ist allerdings gravierend für uns, kommt sie doch einer Auslöschung unseres Spiegelbilds gleich, sobald wir uns abkehren. Damit fordert uns Richter geradezu auf, zu fragen, was wir da sähen: Memento mori? Ecce homo?

Selbstbefragung an der Grenze zur Vernichtung fordern auch seine dicken Glasscheiben ein, die Richter hintereinander gestapelt an die Wand stellt. Nur verschwommen nehmen wir uns darin wahr. Mit der Transparenz, für die das Material Glas steht, ist es nicht mehr weit her. Den Durchblick jedenfalls haben wir nicht, vielmehr entflieht unser Spiegelbild in diesen Glasschichten in eine abgründige Dunkelheit.

Noch abgründiger mutet die mehrteilige Installation der «Birkenau»-Bilder von 2014 an, mit welchen die New Yorker Schau abschliesst. Sie gehen auf vier Fotos zurück, die in Auschwitz-Birkenau von einem Angehörigen des von Häftlingen gebildeten Sonderkommandos aufgenommen wurden: Zwei davon zeigen Abkommandierte beim Verbrennen von Leichen, auf einem anderen ist eine Gruppe von Frauen zu sehen, die in Richtung Gaskammern getrieben wird. Auf einem vierten sieht man verwackelte Baumkronen – Evidenz dafür, dass diese Fotos heimlich und unter Lebensgefahr aufgenommen wurden.

Gerhard Richter: «Birkenau», 2014, Öl auf Leinwand (260×200 cm).

Gerhard Richter: «Birkenau», 2014, Öl auf Leinwand (260×200 cm).

Private Collection © Gerhard Richter 2019 (08102019)

Richter haben diese Bilder über Jahrzehnte beschäftigt, lange vermochte er sie künstlerisch nicht zu verarbeiten. Man darf hier wohl von «verarbeiten» sprechen ganz im Sinn der Verarbeitung eines Traumas. Hätte er diese Fotografien in gegenständliche Bilder übersetzen sollen, wie er es mit anderen Fotovorlagen gemacht hatte? Unmöglich. Schliesslich übermalte er Vorzeichnungen davon auf grossen Leinwänden, indem er Schichten von Farbe übereinanderlegte und danach in seiner gewohnten Technik abzog. Um diesen Bildern ihren fetischistischen Unikat-Charakter zu nehmen, fertigte er überdies digitale Reproduktionen an.

Mit all diesen Massnahmen legt der Künstler aber einen doppelten Schleier über das, was nicht gezeigt oder dargestellt werden kann, weil es jedes Mass an Vorstellungskraft überschreitet. Spätestens in diesen Arbeiten erhellt, dass Gerhard Richter stets mit der Unmöglichkeit gerungen hat, nach Auschwitz noch ein Bild zu malen.

New York, The Metropolitan Museum / Met Breuer: «Gerhard Richter – Painting after all», bis 5. Juli, Katalog $ 50.–.

Weitere Themen