Gänseblümchen, Gift und Galle

Der Fall des Berner Malers Ernst Kreidolf zeigt: Nicht der Künstler, sondern seine Zeit entscheidet, wie ihn die Geschichte in Erinnerung behält.

Daniele Muscionico
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Die Alpenrosen bekommen Besuch: Aus dem «Alpenblumenmärchen» von Ernst Kreidolf. (Bild: Kunstmuseum Bern)

Die Alpenrosen bekommen Besuch: Aus dem «Alpenblumenmärchen» von Ernst Kreidolf. (Bild: Kunstmuseum Bern)

Spiez, das Schlossmuseum. Der Ort ist ein Brennpunkt von Geschichte und Geschichten, er ist seit 1300 Jahren Teil der europäischen Historie. Wer gegenwärtig in die dunklen Kammern tritt, trifft auf eine Künstlerbiografie, die sich als Reaktion auf europäische Geschichte prototypisch ausnimmt. Sie ist an ihr gewachsen – und gescheitert. Im Schlossmuseum Spiez blättert sich zurzeit Leben und Werk des Berner Malers Ernst Kreidolf (1863–1956) auf. Wer Kinder hat oder ein gutes Gedächtnis und die eigene Kindheit vor Augen, wird ihn kennen – allerdings ohne ihn wirklich kennen zu können, wie sich zeigen wird. Um den Künstler nämlich ranken sich Mythen und Missverständnisse.

Kreidolf gilt als Erfinder des modernen Bilderbuches. Bis heute werden, einer geschickten Nachlassverwaltung gemäss, seine Bücher im traditionsreichen Kinderbuchverlag Nord Süd immer wieder neu aufgelegt. Und bis heute hält sich hartnäckig die Meinung: Ernst Kreidolf ist der Malerpoet und Illustrator, der mit naturgetreuen Aquarellen im «Blumenmärchen» (1898) Anemonen zum Sprechen bringt und «Frau Arnika» in ihrer fürsorglichen Art und Weise im Krieg Verwundete pflegen lässt; der im «Wintermärchen» (1924) hilfsbereite Eichhörnchen vor die Schlitten niedlicher Zwerge spannt und mit spitzentanzenden asexuellen «Eis-Elfen» den gefrorenen Waldsee bestellt.

Märchenonkel wider Willen

Es mag so scheinen, doch wie so oft, der Schein trügt auch hier. Über den Schnee als Metapher, Kreidolf hatte ihn im Winter 1916 in St. Moritz persönlich kennengelernt und mit dem «Wintermärchen» auf ihn reagiert, wollte sich die Kunstkritik keine Gedanken machen; und ähnlich bereitwillig haben Zeitgenossen die Zwerge als Bild für bedrohte Menschen übersehen.

Kreidolf war ein Kind seiner Zeit, und die Rezeption seines Werks blieb in ihm gefangen. Als er 1955 mit dem Jugendbuchpreis der Schweizerischen Lehrerschaft ausgezeichnet wurde, hatte sich die Lesart des Künstlers als Kinderbuch-Illustrator und -Autor bereits verselbständigt. Kreidolf publizierte 1894 sein erstes Bilderbuch und 1935 sein letztes von insgesamt 16; in seiner Zeit besonders erfolgreich war «Sommervögel» (1908), das er seinem Malerfreund Albert Welti widmete.

Doch vor diesen Erfolgen ging vergessen – oder liess sich leicht vergessen –, dass die märchenhafte Personifizierung von Tieren und Pflanzen nur eines von Kreidolfs Interessen und Motiven war. Das Kunsthaus Zürich hatte seinen eigenständigen Ölbildern und Aquarellen bereits 1906 eine grosse Ausstellung ausgerichtet und doppelte mit einer Einzelausstellung 1923 nach.

Kriegsgrauen, Apokalypse

Die Rezeption unterschlägt bis heute Kreidolfs Faszination für dunkle Mächte. Vor allem in seinen Alpenbildern harrt Dunkles in Bergschluchten, und auf Bergspitzen wartet es ebenso und will dem Menschen Übles tun. Es ist das menschengemachte Böse, das Kreidolf in seinen Traumgestalten einfängt. Bitterer Ernst herrscht dann in seinen allegorischen Darstellungen, bisweilen sogar die schiere Apokalypse.

Kreidolfs dunkle Mächte, wie er sie in «Wurzelspuk»oder den «Biblischen Bildern» festhielt, sind keine Ausgeburten der Märchen- oder Sagenwelt oder eines kollektiven Unbewussten einer Gesellschaft vor und zwischen die Welt erschütternden Kriegen. Das Dunkle verorte der Künstler präzise – in der christlichen Ikonografie. Kreidolf benennt mit dem personifizierten Tod und Teufel menschliche Eigenschaften wie Habgier und Egoismus.

Doch es sind nicht nur die dunklen Seiten der Alpen, die in seinem Wesen auf Widerhall trafen. Kreidolf litt zeitlebens an Depressionen, an «Nervenkrisen». Die Beschäftigung mit dunklen Mächten schien Heilung zu versprechen, wie er in seinen «Lebenserinnerungen» festhielt: «Religiöse und tiefsinnige Stoffe zogen mich mächtig an.» Kreidolfs Kunst wollte sich dem Unsagbaren und Unlösbaren widmen, dem quälenden Widerspruch zwischen Anspruch und Realität.

Seine Bilderbücher mögen uns als sein Vermächtnis scheinen. Doch wäre der Künstler Autor seiner Wirkungsgeschichte, er hätte sich ganz anders den Annalen anvertraut: Als beschwerter Zeitgenosse, Zeitkritiker und politischer Beobachter.

Die Schweiz als Goldberg

Vor allem die humanitäre Verantwortung der Schweiz treibt ihn während des Ersten Weltkrieges um. Im Winter 1916, den er aus gesundheitlichen Gründen in St. Moritz verbringen musste, hat er sie mit massgebenden Gesprächspartnern erörtert: mit Hermann Hesse, mit seinem späterer Verleger Emil Roniger und dem Schriftsteller Otto Volkart.

Kreidolf beginnt in der Folge, Flüchtlinge zu zeichnen, und er erfindet Allegorien auf die Schweiz, die er einmal als ironischen «Leuchtturm der Liebestätigkeit» darstellt oder als Bastion «im wogenden Meer». Er nutzte, auch hier Kind seiner Zeit, Natur als Medium zur politischen Stellungnahme. Wer die «Alpenblumenmärchen» aus dieser Warte liest, wird die Angst und den Schrecken des Ersten Weltkrieges aus den Erlebnissen der Natur-Wesen nicht überlesen können. Adonis scheitert an einem Eber, den Zeus geschickt hat, Eisenhüte, Rittersporne und Germer führen ein schreckliches Heer kriegstreiberischer Heuschrecken an.

Aus diesem Zusammenhang ist in Spiez zum ersten Mal ein Aquarell aus dem Nachlass ausgestellt: Es ist eine «Kriegsdarstellung» in der Art von Hieronymus Bosch. Habgier und Zerstörung sprechen aus dem Geschehen um einen Schweizer «Goldberg», wenn sich blindwütig Heere und Maschinen zu Wasser und Land bekämpfen. Im Zentrum des Bildes prangt eine Gottesfratze, die Augen sind leer, und leer ist ihre Mine. Wo Gott sich dem Gold verschworen hat und das Leiden der Menschen nicht mehr sieht, übernimmt der Künstler eine Aufgabe, die ihn zugrunde richten muss.

«Bergzauber und Wurzelspuk», Ernst Kreidolf und die Alpen, Schloss Spiez bis 8. Oktober. 25. November bis 25. Februar 2018 im Kunstmuseum Appenzell. Begleitend zur Ausstellung ist in der Reihe «Passepartout» der Burgerbibliothek Bern ein Katalog erschienen. Die Burgerbibliothek widmet Kreidolf eine Kabinettausstellung.