Einkaufen mit Jacques Lacan – was die französischen Theoretiker zu unserem Alltag zu sagen haben

Foucault, Lacan, Lévi-Strauss, Barthes: Die grossen Autoren mit den klingenden Namen haben nicht immer ganz verständlich geschrieben. Doch das sollte niemanden von der Lektüre abhalten. Wagen wir das wilde Lesen!

Gabriel S. Zimmerer
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Michel Foucault, Jacques Lacan, Claude Lévi-Strauss und Roland Barthes: Vier «Wilde» in Baströcken lassen sich auf das Abenteuer des Denkens ein. (Illustration von Maurice Henry, erschienen in: La quinzaine littéraire, 1976).

Michel Foucault, Jacques Lacan, Claude Lévi-Strauss und Roland Barthes: Vier «Wilde» in Baströcken lassen sich auf das Abenteuer des Denkens ein. (Illustration von Maurice Henry, erschienen in: La quinzaine littéraire, 1976).

Wild wuchern die Gedanken. Wer ein wissenschaftliches Buch aufschlägt, dem scheint das, was er darin findet, oft allzu fern von dem, was ihn im Alltag beschäftigt. Als sei die Gedankenwelt im Buch eine andere als die täglich erlebte. So überlassen wir den Wissenschaftern die wissenschaftlichen Bücher. Muss das so sein? Es gab eine Zeit, in der akademische Stimmen noch freier in den Köpfen der Menschen widerhallten. Eine Zeit, in der wissenschaftliches Arbeiten und Alltagslektüre noch enger verwoben waren, die Gedanken noch wilder zwischen den Welten wuchern durften.

Daran erinnert ein Bild: Eine Karikatur von 1967 zeigt die damals führenden französischen Intellektuellen. Michel Foucault, Jacques Lacan, Claude Lévi-Strauss, Roland Barthes sitzen als «Wilde» in Baströcken auf dem Boden, ins Gespräch vertieft. Ein Historiker, ein Psychoanalytiker, ein Ethnologe und ein Semiotiker, universitäre Stars ihrer Zeit. Warum «Wilde»? Weil die vier sich auf das unbekannte Abenteuer einlassen: Sie halten das Fremde, Rätselhafte unseres Alltags nicht intellektuell auf Distanz, sie tasten neugierig danach, lassen die Gedanken frei, brechen zu höchster Klarheit durch und lassen doch zärtlich unergriffen, was unergriffen bleiben muss.

In ihren Texten heute zu lesen, hilft zu verstehen, wie wissenschaftliche Gedanken unsere Alltagswelt erhellen, unsere Wahrnehmung schärfen können. Das passiert nicht beim disziplinierten Durcharbeiten ihrer Bücher, sondern beim abenteuerlichen Erkunden. Denn könnten wir selbst nicht genauso wild lesen, wie diese Autoren wild gedacht und geschrieben haben? Wir müssen doch gar keinen Grund, Nutzen, Anlass haben. Wir können uns ergreifen lassen von einzelnen Passagen grosser Werke, von einer schönen Formulierung, einem klugen Gedanken. Wir dürfen überspringen, blättern, Geschichten sammeln, eintauchen . . .

Michel Foucault

Wäre Michel Foucaults Buch «Überwachen und Strafen» ein Hollywoodfilm, ginge es gleich in der ersten Szene zur Sache. Gewalt, Blut, Action. Die detaillierte Beschreibung einer Hinrichtung 1757: Knochenbrechung, Vierteilung, Verbrennung eines Mörders. Schnitt. Alles wird langsamer. Ein Hof, Morgengrauen, 80 Jahre später. Im Nebel der frühen Stunden treten Gefangene auf den Hof. Es folgen Appell, Exerzieren, Gebete, Werkstattarbeiten, bis zum Abend im Minutentakt durchgeplant. Ende des Prologs. In nur 80 Jahren hat sich die Autoritätsausübung des Staates grundlegend verändert. Dort die körperlichen Qualen der Hinrichtung, hier die geistige Disziplinierung des Strafvollzugs.

Auf nur fünf Seiten hat Foucault seine Theorie mit diesen zwei Bildern veranschaulicht: das Wandern der Macht von Aussen nach Innen im Lauf der Jahrzehnte.

Auf nur fünf Seiten hat Foucault seine Theorie mit diesen zwei Bildern veranschaulicht: das Wandern der Macht von Aussen nach Innen im Lauf der Jahrzehnte. Auf den vielen darauffolgenden Seiten breitet Foucault dieses Argument aus. Wir beobachten, wie Soldaten zu Körpermaschinen und Pest-Städte zu Überwachungslaboratorien werden, und wir stossen auf die Szene, die sich jedem Leser für immer einbrennt wie die Augenklammer in Kubricks «A Clockwork Orange» oder das Mädchen im roten Mantel in Spielbergs «Schindler's List» – die Szene des Panopticons. Das perfekte Gefängnis, rund, gläsern, in dem die Wächter alles, die Gefangenen nichts sehen. Die Phantasie als höchste Bestrafung. Die verinnerlichte Macht: maximal effizient, ökonomisch vollendet.

Wer diese gedankliche Verschiebung nachvollzieht, sieht diese Mechanismen plötzlich auch heute überall. In den türlosen Grossraumbüros, in den Häkchen der Whatsapp-Nachrichten, in den Fensterfronten der Fitnessstudios. Der Wächter ist niemand und doch jeder. Keiner beobachtet uns, und doch lauert das Auge der anderen überall. Dieses perfide Arrangement jenseits von brachialer Gewalt beschreibt Foucault in seinem Buch so thrilling, so gruselig, dass er dafür einen Oscar verdient hätte.

Jacques Lacan

Φ, ~, $, ◊, … auf solch seltsame Zeichen stösst, wer in den Büchern von Jacques Lacan blättert. Der damit unvertraute Leser kann das Buch mit Schrecken sofort wieder zuklappen. Oder er kann im Unverständlichen etwas Anziehendes entdecken – und sich damit genau jener jouissance, dem lustvollen Schaudern, hingeben, das zentral in Lacans Theorie ist. Stück für Stück, ohne dass man genau wüsste wie, wird die Sache verständlich. Und eines Tages ertappt man sich dabei, wie sich die seltsamen Zeichen in den Alltag einschleichen, man vor den Regalen im Supermarkt steht und an Lacan denkt.

Welchen Kaffee soll ich kaufen? Den, der mir so gut schmeckt, oder den mit dem Fair-Trade-Siegel? Eine Arbeiterin in einer südamerikanischen Plantage, eine Sprühbrause mit chemischem Dünger, ein Frachter auf dem Atlantik, die Aktienkurve eines Supermarktes – das imaginaire der Situation, eine Kette aus bewussten und unbewussten Bildern und Assoziationen. Die Talkshow letzten Sonntag, die Gespräche mit Freunden, die Fair-Trade-Absatzstatistik, der mich beobachtende Regalnachbar – das symbolique der Situation, ein Gewebe der Kommunikation und der sprachlichen Festlegung des anderen. Man kann diese Kräfte nun ausbalancieren und zu einer Entscheidung kommen. Das eigentlich Schwierige aber bleibt jener Rest, der auch nach allem Abwägen bleibt: die Erfahrung, dass ich die Dinge und mich selber nie ganz zusammenbringe.

Muss man das alles verstehen? Nein. Doch genau das ist der Punkt. Lacan war einer, der uns auch dann berührt, wenn man ihn nicht ganz versteht.

Die Plantagenarbeiterin dort, mein Gaumen hier – die klaffende Lücke dazwischen, in der Lacan das réel entdeckt. Dieses Reale manifestiert sich wie in einem Horrorfilm in einem konkreten Gegenstand, dem plötzlich etwas Lebendiges anhaftet: Die Kaffeepackung starrt mich an . . . Muss man das alles verstehen? Nein. Doch genau das ist der Punkt. Lacan war einer, der uns auch dann berührt, wenn man ihn nicht ganz versteht. Einer, der zeigt, dass man auch so Akademiker sein kann: nicht durch klare Worte, sondern im Einfangen von Zwischentönen.

Claude Lévi-Strauss

Claude Lévi-Strauss führt uns in den Dschungel. Sein Werk handelt nicht nur oft vom Urwald, sondern ist auch genauso verschlungen, majestätisch und überraschend. Irgendwo im Dickicht stösst man beim wilden Lesen auf «Ein kleines mythisch-literarisches Rätsel». Das sind neun Seiten, und doch fassen sie die ganze Welt. Der Artikel nimmt seinen Ausgang von einem Gedicht: Apollinaire bezeichnet darin die Herbstzeitlosen als filles de leurs filles. Welch wundersame Formulierung. Lévi-Strauss folgt ihr.

Zunächst zur Botanik: Die Herbstzeitlosen pflanzen sich untertags fort, indem sie seitlich ihre Knolle reproduzieren – sie sind biologische Klone. Dazu tragen sie ihre Früchte im Frühling, die Blüten im Herbst – ein umgekehrter Jahreszyklus. So sind sie «Töchter ihrer eigenen Töchter», und der Begriff ist erhellt. Doch Lévi-Strauss geht weiter, durchforstet die alten Mythen von frühchristlichen Marientexten über die indischen Veden bis zum Parzival. Überall entdeckt er Variationen der paradoxen Formulierung. So wird der ethnografische Kontext gefestigt.

Claude Lévi-Strauss auf einer Aufnahme von 1990. (Bild: Marc Gantier, Keystone)

Claude Lévi-Strauss auf einer Aufnahme von 1990. (Bild: Marc Gantier, Keystone)

Der nächste Schritt führt in die hohen Sphären der formalen Mathematik, wo Elemente einander gegenseitig definieren, Strukturen ohne Aktiv und Passiv. Die schöpferische Kraft sowohl in der Natur als auch in der Kultur ist vielfältiger, widersprüchlicher, lebendiger als die einfache Aufteilung in Ursache und Wirkung. So hat sich Lévi-Strauss, ausgehend von einer botanischen Detailbetrachtung, aufgeschwungen zu den Grundkräften unseres Daseins. Er zeigt, wie eine einzige kleine Formulierung etliche Ebenen unserer Welt enthalten kann. Beim Poeten sind diese Ebenen dunkel gleichzeitig erfasst, der Wissenschafter aber fächert sie der Reihe nach auf und sieht, wie Natur und Kultur einander gegenseitig erschaffen, unwissentlich imitieren und schliesslich erhellen.

Ist die Welt nicht voll von solchen «kleinen Rätseln»? Eine Musik, die uns nicht aus dem Kopf geht, ein Film, der uns fragend berührt, ein Schmuckstück, das uns seltsam schön erscheint – in allem, was uns ergreift, sind Natur und Kultur verschlungen, doch beim sinnlichen, lustvollen Lesen lichtet sich das Dickicht.

Roland Barthes

Roland Barthes öffnete ein Friseurbesuch die Türen zum Ruhm. Eine in die Hand gedrückte Zeitschrift dort inspirierte ihn zu seiner Kolumne «Mythen des Alltags». Barthes widmete sich monatlich einem Alltagsthema und deckte den darin verborgenen «Mythos» auf. Er sinniert über die gesellschaftliche Symbolik von Beefsteak-Garstufen und schreibt Sätze wie: «Ich glaube, dass das Auto heute das genaue Äquivalent der gotischen Kathedrale ist.» Bei Barthes verlieren die kleinen Dinge ihre Natürlichkeit – plötzlich wirft der Alltag ungewöhnliche Fragen auf.

Roland Barthes bei sich zu Hause, 1964. (Bild: René Saint Paul / Keystone)

Roland Barthes bei sich zu Hause, 1964. (Bild: René Saint Paul / Keystone)

Es geht dabei nie nur darum, den «Sinn» hinter einem Alltagsphänomen zu entschlüsseln, das ist ja recht einfach zu bewältigen. Und auch populäre Kritiken an einer versteckten «Ideologie» sind nicht genug. Der entscheidende «Mythos» liegt meist tiefer: Blickt man mit Barthes aufs neueste iPhone, wundert man sich nicht über die Euphorie, die seine Ankündigung auslöst – sondern darüber, dass wir es nach dem Kauf sofort mit einer Hülle verschleiern. Nicht dass der neue Cinnamon-Latte bei Starbucks jetzt auch mit Fair-Trade-Siegel und Sojamilch auftritt, gibt uns zu denken, sondern dass selbst die Grösse des kleinsten Bechers unseren Durst übersteigt.

Jenseits dieses Instrumentariums ist das wirklich Erfrischende an Barthes‘ Buch aber seine Schmetterlingsform. Man kann es in der Mitte aufklappen und hat auf der linken Hälfte die anschaulichen Anekdoten der Kolumnen und auf der rechten Hälfte einen längeren Essay, der das komplexe theoretische Argument entlang vieler Fremdwörter und linguistischer Modelle entwickelt.

Solche Schmetterlingsbücher sind heute vom Aussterben bedroht. Dass etwas ganz story und ganz Theorie ist, Unterhaltung und vollendeter Gedanke zugleich, dass der Leser ein Argument von beiden Seiten her, je nach Präferenz, erkunden kann: welch freie Denk- und Schreibkultur. Wildes Schreiben – in ihm wird nicht nur eine Stimme hörbar und ein Miteinander möglich, plötzlich wird alles um uns lebendig. Dafür braucht es aber wilde Leser. Warum also nicht in der Sonne, im Garten, in der Mittagspause, im Café für ein paar Minuten eintauchen in diese wissenschaftlichen Welten – und wild lesen.

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