Ein Pariser entdeckt das wilde Denken

Mit der Biografie von Claude Lévi-Strauss zeichnet Emmanuelle Loyer zugleich ein Jahrhundert französischer Geistesgeschichte.

Andrea Roedig
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Versteckt hinter der Formvollendung: Claude Lévi-Strauss (1908–2009), fotografiert im Jahr 2004. (Bild: Gladieu / Le Figaro Magazine / laif)

Versteckt hinter der Formvollendung: Claude Lévi-Strauss (1908–2009), fotografiert im Jahr 2004. (Bild: Gladieu / Le Figaro Magazine / laif)

Der Begründer der strukturalen Anthropologie, Neu-Erfinder der Ethnologie im 20. Jahrhundert und grosse Mythologe Claude Lévi-Strauss pflegte plötzlich in Ohnmacht zu fallen, wenn er sich langweilte. «Die Langeweile und das Schuldgefühl bekämpfen»: das seien zentrale Motive für Lévi-Strauss gewesen, schreibt Emmanuelle Loyer in ihrer Biografie. Das Leben, das sie hier auf mehr als tausend Seiten schildert, ist allerdings keines der grossen Skandale oder Enthüllungen.

Im Gegensatz zu Tiphaine Samoyault, die in ihrem vor zwei Jahren erschienenen Riesenbuch über Roland Barthes mehr ans Licht zerrte, als man je hatte wissen wollen, bleibt Loyer mit intimen Details sehr zurückhaltend. Das mag an der Biografin liegen, aber auch an Lévi-Strauss. Denn als Mensch bleibt er ungreifbar wie das nicht vorhandene Subjekt hinter einer Maske aus Formvollendung und «Freundlichkeit ohne Familiarität», wie Loyer den Umgang mit Mitarbeitern schildert. Der Lektüre tut dies erstaunlicherweise keinen Abbruch. Das Leben des Strukturalisten ist selbst durch Strukturen bestimmt. Die Spannung ergibt sich, da die Biografin zeigt, wie aus minimalen Abweichungen vom Normmodell des französisch-akademischen Karrierewegs eine ganz neue Wissenschaft entsteht.

Langeweile in der Provinz

Die Startbedingungen beschreibt Loyer als mit feinen Rissen versehene Normalität. 1908 geboren, wuchs Claude Lévi-Strauss als einziger Sohn einer aus dem Elsass stammenden jüdischen Familie auf, im Milieu des Pariser Grossbürgertums zwar, doch in Geldnot. Lévi-Strauss absolvierte den klassischen Bildungsweg: Lycée Hoche, Studium an der Sorbonne, Agrégation in Philosophie, Heirat, eine Lehrerstelle in der Provinz.

Die biografische Wende tat sich auf, als der 26-Jährige, der gerade begann, sich vor der Langeweile als Provinzlehrer zu fürchten, das Angebot erhielt, an der neu gegründeten Universität São Paulo Soziologie zu unterrichten. 1935 ging er mit seiner ersten Frau, Dina, für vier Jahre nach Brasilien und wurde hier zum selbsternannten Ethnologen. Das Fach – und auch bei Marcel Mauss – hatte er nie studiert. Er unternahm die beiden berühmten Reisen zu den indianischen Stämmen der Bororo, der Caduveo und der Nambikwara, die gesamthaft bloss neun Monate ausmachten in einem langen Leben, das insgesamt 101 Jahre dauern würde.

Lévi-Stauss war nur halb ein Autodidakt, denn seine Karriere verlief in und mit Institutionen, die er sich mitunter geschickt zunutze machte. Folglich räumt Loyer, von Hause aus Historikerin, der Beschreibung von kulturellen oder wissenschaftlichen Instituten, ihrem Aufbau, ihrer Wirkungsweise und ihrer Politik fast mehr Platz ein als dem Werk von Lévi-Strauss. So wird hier die mit einem Hauch von französischem Kulturimperialismus gegründete Universität São Paulo genauso ausführlich dargestellt wie das von der Rockefeller Foundation finanzierte Notprogramm für verfolgte jüdische Wissenschafter an der New School for Social Research in New York, wo Lévi-Strauss ab 1941 während der Jahre seines Exils lehrte.

Hier traf er den Linguisten Roman Jakobson, der ihn auf die entscheidende Idee brachte, die komplexen Verwandtschaftsbeziehungen der sogenannten primitiven Gesellschaften, die er untersuchte, wie eine Sprache aufzufassen und die einzelnen Elemente als Phoneme. Dies war der Grundstein für die auf formalen Differenz-Prinzipien beruhende Anthropologie, die Lévi-Strauss später entwickeln würde.

Zweimal hatte er Frankreich für längere Zeit verlassen, aber Lévi-Strauss wurde kein Kosmopolit. Seine biografische Zugehörigkeit sei «hoffnungslos national» gewesen, schreibt Loyer. 1947 kehrte er aus den USA nach Frankreich zurück, publizierte sein erstes grosses Buch über «Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft», war für die Ecole pratique des hautes études und auch für die Unesco tätig, aber er fand nicht die Anerkennung, die er angestrebt hatte.

Loyer schildert diese Jahre als eine Krisenzeit. Aus einer Frustration heraus schrieb Lévi-Strauss 1955 in nur vier Monaten das autobiografische Buch «Traurige Tropen», das ihn schlagartig berühmt machte und ihm paradoxerweise akademische Ehren einbrachte: eine Professur am Collège de France, auf deren Grundlage Lévi-Strauss ein eigenes Institut, das Laboratoire d'anthropologie sociale, gründete, das es heute noch gibt und von Loyer als Institution eingehend beschrieben wird.

Aufstieg des Strukturalismus

Die Biografin bemerkt, dass Lévi-Strauss sehr früh schon älter aussah, als er tatsächlich war. Auch auf den abgebildeten Fotos im Band scheint ein «mittlerer» Lévi-Strauss zu fehlen. Es gibt den jungen, melancholisch dreinblickenden Forscher mit runder Brille und Bart, der sich recht bald in der New Yorker Zeit zu einem gesetzten Herrn mit Anzug und zurückgekämmtem Haar verwandelte.

Diesem Aussehen blieb Lévi-Strauss dann fast unverändert treu in einem Leben, das lang genug war, um sowohl den Aufstieg des Strukturalismus zur tonangebenden Theorie in Frankreich zu befördern als auch – relativ gelassen – dessen Niedergang mit anzusehen. Interessant ist diese Entwicklung auch, weil die strukturale Anthropologie, die das «wilde Denken» dem abendländischen gleichberechtigt gegenüberstellt, natürlich als eine Antwort auf die Schuld des Kolonialismus gelesen werden kann; zugleich legte sie den Grundstein für die gegenwärtigen Auseinandersetzungen um Rassismus und postkoloniale Theorien.

Emmanuelle Loyers opulente Biografie macht vieles richtig. Das liegt auch daran, dass die Autorin sich selbst zurücknimmt und, von einigen etwas zu blumigen Deutungen abgesehen, ihr Material und die Sache in den Vordergrund stellt. Mit Lévi-Strauss schreibt sie ein Jahrhundert französischer Geistes- und Institutionengeschichte. Für die deutsche Ausgabe ist erfreulich, dass Eva Moldenhauer als Übersetzerin immer noch tätig ist. Sie hatte unter anderem schon «Tristes Tropiques» und die «Mythologica» ins Deutsche übertragen. Unendlich lange scheint das her.

Emmanuelle Loyer: Lévi-Strauss. Eine Biografie. Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2017. 1088 S., Fr. 78.90.