Einmal ärgerte er Patti Smith, dann sah sie, wie er sie malte, und war versöhnt. Zum Tod des bedeutenden Schweizer Malers Franz Gertsch

1930 geboren, hat der Künstler ab 1969 seine fotorealistische Malerei entwickelt. Am Mittwoch ist er 92-jährig gestorben.

Kerstin Stremmel 4 min
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Franz Gertsch im Jahr 2005 in seinem Atelier vor einem Pestwurz-Gemälde.

Franz Gertsch im Jahr 2005 in seinem Atelier vor einem Pestwurz-Gemälde.

Yoshiko Kusano / Keystone

Franz Gertsch war der Magier unter den Malern. Er verzauberte die Wirklichkeit in ihr gemaltes Abbild, als er 1969 zu fotografieren begann. Es war damals, als lernte er mit dem Fotografieren noch einmal neu malen. Häufig waren es Schnappschüsse. Und nicht immer waren diejenigen begeistert, die er aus dem Verborgenen fotografierte.

Im Jahr 1978 entsteht ein fünfteiliger Bilderzyklus, der die Punkrock-Legende Patti Smith umkreist. Im ersten Bild sieht man die Künstlerin von hinten, kauernd, mit einer E-Gitarre auf einer Bühne, sie scheint ganz auf die Technik konzentriert.

Tatsächlich war die Sängerin nicht sonderlich amüsiert, als Gertsch zahlreiche Fotos während eines Konzerts in der Kölner Galerie Veith Turske machte. Auf weiteren Bildern wendet sie sich allerdings dem Betrachter zu. Vor allem das letzte, ruhige Gemälde, dem eine Fotografie zugrunde liegt, die bei einem Besuch von Patti Smith in Gertschs Atelier entstand, zeigt ein intensives und verhalten intimes Porträt.

Auf dem Berg fiel der Entscheid

Franz Gertschs riesige fotorealistische Bilder waren das Ergebnis einer Suchbewegung, die Experimente mit verschiedenen Darstellungsweisen und Medien umfasste und in die Einsicht mündete, dass es nicht nötig sei, eine individuelle Handschrift zu entwickeln. Die Entscheidung fiel, wie Gertsch es selbst beschrieben hat, auf dem Gipfel des Monte Lema im Tessin, als er bereits 39 Jahre alt war. Im sorgsamen Umgang mit Materialien war er geübt, nun fand er seinen unverwechselbaren Stil.

Für diesen Neubeginn, bei dem nicht absehbar war, ob Gertsch damit auch auf dem Kunstmarkt reüssieren würde, verwendete der Künstler zunächst billigste Materialien, Betttücher und in Dispersion angerührte Pulverpigmente sowie selbstgezimmerte Rahmen. Das machte er, angefangen mit «Huaaa . . .!», dem fotorealistischen Gemälde eines reitenden Offiziers, bis zum 1971 entstandenen Bild «Medici», das fünf langhaarige hippe junge Männer an einer Bauabschrankung der Firma Medici zeigt.

Franz Gertsch: «Medici», 1971.

Franz Gertsch: «Medici», 1971.

Keystone

Dieses Bild wurde ein Jahr später auf der von Harald Szeemann kuratierten Documenta 5 ausgestellt, danach wurde Gertsch nach New York eingeladen, wo er als neues Leinwandmaterial Cotton Duck No. 10 entdeckte, das eine viel zeitintensivere Arbeitsweise notwendig machte. Auch mit dem Einsatz professioneller Kameras verlangsamte sich Gertschs Arbeitsweise, nach anfänglicher Knipserei wurde die Bildsuche immer gezielter.

1978 nahm Gertsch an der Biennale in Venedig teil. Kurz darauf begann er seine Porträtserie mit einem Selbstporträt und eindringlichen Bildern verschiedener Frauen, die einen hohen Realitätsgrad erreichten und trotz ihrer herausfordernden Grösse jene Ruhe und Konzentration ausstrahlen, die bei ihrer Erstellung notwendig waren.

«Provokant bedächtig» nannte der Kunsthistoriker Götz Adriani einmal diese Vorgehensweise. Denn es findet darin keine Verdoppelung statt, wie sie dem fotografischen Medium oft vorgeworfen wurde, sondern eine gewissenhafte Rekonstruktion der Wirklichkeit durch die Malerei. Das hat zur Folge, dass die Zahl der Werke überschaubar blieb, benötigte Franz Gertsch doch für die Ausführung seiner Drucke und Bilder manchmal mehr als ein Jahr.

Vorbild und Abbild: Franz Gertsch steht 1980 neben seinem Selbstporträt.

Vorbild und Abbild: Franz Gertsch steht 1980 neben seinem Selbstporträt.

Keystone

Bilder aus lauter Punkten

Die Produktion der Holzschnitte setzte im Jahr 1986 ein, und diese detailreichen, auf Japanpapier abgezogenen, in der Kunstgeschichte singulären Arbeiten haben ebenfalls oft eine monumentale Grösse von bis zu mehr als 4×5 Metern. Der Entstehungsprozess ist aufwendig, die Bildvorlage wird in ein Schema aus Lichtpunkten umgesetzt, die Gertsch mit einem Hohleisen in die Holzplatte treibt und die durch den Druck dann in eine feine Rasterstruktur verwandelt wird.

Um Gertschs skrupulöse Arbeitsweise nachzuvollziehen, eignet sich die Lektüre eines sorgsam gestalteten Buchs mit dem Titel «Silvia», das 1999 im Verlag Lars Müller erschienen ist. In dieser Chronik beschreibt Norberto Gramaccini den langen Weg zur Vollendung eines Gemäldes: «Wie die Textur der Farbe sich aus Myriaden malerischer Zeichen zusammensetzt, so ist auch das Bild als ästhetische Einheit die Summe aus einer Vielzahl von künstlerischen Einzelentscheidungen.»

Gertsch, der einmal gesagt hat, dass er sich der Schönheit verschrieben habe, obwohl weder seine Modelle für Misswahlen prädestiniert seien, noch die Pestwurz, die er mehrmals gemalt hatte, den Gärtner erfreue, hat in der Natur vor seinem Haus viele Motive gefunden. Dabei war ihm das Unbedeutende ebenso wichtig wie die markanten Erscheinungen: «Jedes Detail ist gleichberechtigt. (. . .) Der morsche schwarze Ast will so geliebt werden wie der Stamm der jungen Buche.» Mit unsentimentaler Präzision hat Franz Gertsch, der bis ganz zuletzt in seinem Atelier tätig war, ein eigenwilliges und bei aller Monumentalität intimes Werk geschaffen. Nun ist der Maler am 21. Dezember im Alter von 92 Jahren gestorben.

Trotz aller Monumentalität intim: Franz Gertschs Holzschnitt «Gräser IV» von 1998/99.

Trotz aller Monumentalität intim: Franz Gertschs Holzschnitt «Gräser IV» von 1998/99.

Uli Deck / DPA

Eine spektakuläre Wende

rbl. · Das Jahr 1969 teilt das Lebenswerk von Franz Gertsch in ein Vorher und Nachher. Aus dem Aquarellisten wurde ein Fotorealist, der schnelle Maler entdeckte die Langsamkeit. Nun entstanden nach Fotografien grossformatige Gemälde und Holzstiche, die jeden Pinselstrich und jeden Schnitt ins Holz sichtbar und zugleich unsichtbar machten. Man musste ganz nah an die Bilder herangehen und dann wieder Abstand nehmen, um ihren Zauber zu entdecken: wie sich aus dem Wirrwarr kleinster Pinselstriche oder unendlich vieler Punkte allmählich ein hyperrealistisches Bild zusammensetzte: ein Gesicht, Gräser oder ein Herbstwald.

1930 in Mörigen am Neuenburgersee geboren, besuchte Franz Gertsch in Bern die Malschule. Bereits mit seinem Frühwerk erhielt er einige Anerkennung, doch erst mit der spektakulären Verwandlung von 1969 wurde er international berühmt. Nun waren seine Werke an der Documenta in Kassel und an der Biennale von Venedig zu sehen. 2002 wurde in Burgdorf das Franz-Gertsch-Museum eröffnet, wo grosse Teile seines Werkes ausgestellt werden. In einem eigens errichteten Erweiterungsbau ist dort auch der monumentale Vier-Jahreszeiten-Zyklus zu sehen. 

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