Die Wanderung der Kobolde

23.06.2016 | Dr. Stefan Merker

„Koboldmakis? –Sind das nicht die kleinen putzigen Halbaffen mit den großen Augen?“ – Stimmt nicht ganz: Klein sind sie, und große Augen haben sie auch. Doch „Halbaffen“ beschreibt die Verwandtschaft der unter diesem Namen zusammengefassten Primaten (Lemuren, Loris, Pottos und Koboldmakis) nur sehr ungenau. Denn wie eigentlich seit Jahren bekannt, aber noch nicht in alle Lexika vorgedrungen, sind die südostasiatischen Koboldmakis (oder Tarsier) nämlich mit den Menschen näher verwandt als z.B. mit den ihnen ziemlich ähnlichen Mausmakis aus Madagaskar. Angesichts der vielen „Echten“ Makis auf Madagaskar muss ich also immer erstmal tief Luft holen, wenn ich über meine Arbeit mit den indonesischen „Makis“ berichten soll.

Ein Weibchen des Lariang-Koboldmakis (Tarsius lariang) (Bild: S. Merker).

Die Koboldmakis von Sulawesi

Im Jahr 1998 flog ich zum ersten Mal nach Sulawesi (das frühere Celebes, zwischen Borneo und Neuguinea gelegen), um für meine Diplomarbeit Populationsdichten von Diana-Koboldmakis in anthropogen veränderten Regenwäldern aufzunehmen. Schon damals gab es Hinweise, dass die taxonomische Vielfalt dieser nachtaktiven, nur 12 cm großen Primaten größer ist, als die Lehrbücher angaben. Regional unterschiedliche Duettgesänge der Tiere (die Süddeutsche Zeitung titelte mal „Singendes Kullerauge“) versprachen die Entdeckung neuer Arten.

Neun Expeditionen, drei Jahre Feldforschung und ca. 10 Jahre Laborarbeit später hatte sich die Artenliste der sulawesischen Koboldmakis deutlich erweitert und unser Wissen um die Verbreitungsgebiete der Arten stark verbessert. Für Koboldmaki-Forscher (und davon gibt es weltweit leider nur etwa eine Handvoll) war Sulawesi zu einem Flickenteppich geworden: mit Ausnahme einer rätselhaften Zwergform, welche vereinzelt in Nebelwäldern ab 1800 m Höhe gesichtet wurde, sind die Arten der Gattung Tarsius strikt allopatrisch verbreitet, d.h. sie besiedeln einander nicht überlappende Teilbereiche der Insel.

Mit mehr als 17 000 tropischen Inseln und einer immensen Artenvielfalt ist Indonesien ein Traum für Biogeographen (Quelle: d-maps.com, verändert).

Die geradezu unheimliche Artaufspaltung der Tarsier

Aber wie kam es dazu? Dieser Frage wollten wir auf den Grund gehen. Fossile Belege eozäner und miozäner Omomyidae, der mutmaßlichen Vorfahren der Koboldmakis, gibt es fast von der gesamten nördlichen Hemisphäre. Heute lebende Koboldmakis kommen nur auf den Philippinen und im Indonesischen Archipel vor. Speziell auf Sulawesi hat irgendwann eine für Wirbeltierverhältnisse geradezu unheimliche Radiation der Tarsier stattgefunden, eine Aufspaltung in viele, voneinander isolierte Arten. Was waren die treibenden Kräfte hinter der Aufspaltung? Wirkten sie auch auf andere Taxa? Wann ist das passiert? Wie haben die Tiere die Insel kolonisiert?

Eine größere Studie war also nötig. Was braucht man, um solch ein Projekt zu stemmen? Motiviertes Personal. Zeit. Geld. Genehmigungen.

Umfassende Untersuchungen

Christine Driller von der Universität Mainz war bereits 2005 mit mir nach Sulawesi geflogen, um ihre von mir mitbetreute Diplomarbeit über die Koboldmakis zu schreiben. Bald danach stand für sie fest: es soll auch für ihre Promotion mit Tarsiern weitergehen. Ihr Doktorvater an der Uni Mainz (und mein früherer Chef), Hans Zischler, hatte mit und für Christine DFG-Mittel eingeworben, unsere langjährigen Partner am Indonesischen Primatenzentrum in Bogor halfen beim Einholen der vielen nötigen  Genehmigungen. Im Jahr 2010 – ich war mittlerweile an die Uni Frankfurt gewechselt und beriet Christine über Main und Rhein hinweg – war Christine dann fast ein Jahr lang auf Sulawesi unterwegs, flog mit ihrem Team in möglichst viele Provinzen der Insel, nahm dort die artspezifischen Duettgesänge der Koboldmakis auf, fing jeweils einige Tiere mit Japannetzen und entnahm ihnen winzige Gewebeproben für genetische Analysen.

Die umfassenden folgenden Untersuchungen zogen sich nun (wie so oft) ungeplant lang hin – ich hatte mittlerweile meine Berufung am SMNS in Stuttgart gefunden –, aber ihre Ergebnisse lohnten auf jeden Fall den Aufwand! Allerdings mussten wir erst zweimal schauen, um sie zu verstehen. Aber dann fiel es uns wie Schuppen von den Augen, rätselhafte Ergebnisse früherer Studien ergaben plötzlich viel mehr Sinn als vorher. Die Ergebnisse und ihre Interpretation kurzgefasst:

Eine molekulare Datierung des Koboldmaki-Stammbaums legt nahe, dass die Urväter und -mütter der heutigen Tarsier Sulawesis vor ca. 20 Mio. Jahren in die Region des heutigen Südostsulawesis kamen. Und dann passierte viele Millionen Jahre lang erstmal – nichts. Zumindest nichts, was wir aus dem Stammbaum der heute lebenden Tiere herauslesen können, auf seine ausgestorbenen Zweige erlaubt er uns leider keinen Blick. Aber die lange Periode nur geringer Veränderungen ist durchaus plausibel: vor 20-10 Mio. Jahren waren die allergrößten Teile Sulawesis entweder noch nicht an Ort und Stelle (die Insel driftete erst nach und nach aus Mikroplatten zusammen), oder die Landmassen waren noch vom Meer überschwemmt – für kleine Affen ein eher unwirtliches Habitat. Der Stammbaum der sulawesischen Koboldmakis zeigt dann sehr gut, wie die Arten nach und nach immer weiter nach Norden wanderten und den neu besiedelbaren Landmassen folgten. Interessant ist – und das war es, was uns zwischendurch so verblüfft hatte –, dass sich in den genetischen Stammbäumen abzeichnete, dass es immer wieder Hybridisierung zwischen den neuen Koboldmaki-Formen gab (sogar bis hin zur kompletten Übernahme ganzer mitochondrialer Genome anderer Taxa; ein so genanntes „mitochondrial capture“).

Mit der Auswahl der Sammelorte sollten möglichst viele Stammlinien der Koboldmakis in die Studie einbezogen werden. Der Multi-Gen-Stammbaum zeigt die Unterteilung der sulawesischen Tarsier in zwei große Gruppen (sogenannte Clades) (aus Driller et al. 2015).

Vor allem aber gab es aber mindestens zwei separate Ausbreitungswellen, die einmal von Südost- und dann von Südwestsulawesi aus über die Insel schwappten.

In Zentralsulawesi wurde Welle (oder Linie) 1 dann von Welle 2 überlagert. So kommt es, dass die Tarsier aus dem Südosten der Insel näher mit den Tieren aus dem hohen Norden verwandt sind als mit den Populationen dazwischen. Diese stammen nämlich aus dem Südwesten der Insel. Alles klar? Ein Blick auf die Karte hilft bestimmt.

Geologen haben jahrelang die Basis unserer (biologischen) Spekulationen geliefert. Mit den nun veröffentlichten umfangreichen Daten zu den Tarsiern Sulawesis können wir ihnen endlich auch einmal Futter für weitere Interpretationen liefern. Selbst ein aktuelles GEO-Magazin (03/2016) widmet der Studie ein paar Zeilen.

Ein weiteres Ergebnis der Reisen über die ganze Insel: in mancher Ecke Sulawesis singt und pfeift es auf bisher noch völlig unbekannte Weise. Der Lockruf Sulawesis wird wieder lauter!

Koboldmakis breiteten sich in mindestens zwei Wellen über Sulawesi aus (aus Driller et al. 2015).

Literatur

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