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Ex-Finanzminister Was von Wolfgang Schäuble bleibt

Wolfgang Schäuble ist am zweiten Weihnachtstag im Alter von 81 Jahren verstorben
Wolfgang Schäuble ist am zweiten Weihnachtstag im Alter von 81 Jahren verstorben
© Panama Pictures / IMAGO
Kaum ein Finanzminister hat Deutschland und Europa so geprägt wie Wolfgang Schäuble – seine achtjährige Amtszeit wirkt bis heute nach. Eine Bilanz

Wolfgang Schäuble war erst wenige Monate im Amt als neuer Finanzminister der Bundesrepublik Deutschland und hatte schon keine besondere Lust mehr. So sah es wenigstens aus, als er auf einem langen Flug nach Südkorea irgendwo über Russland die mitreisenden Journalisten zu sich bat, in den vorderen Teil des großen Regierungsfliegers, der nur den Ministern und ihren engsten Mitarbeitern vorbehalten ist. Ob er sich auf diese internationalen Treffen freue, die sein neues Ministeramt mitbringe, wurde Schäuble gefragt. Aber der neue Minister zuckte nur die Schultern und verzog missmutig das Gesicht.   

Klein und schmächtig saß Schäuble in den wuchtigen Sitzen des Regierungsfliegers, im Dröhnen der Maschine war seine Stimme – ohnehin nie ganz einfach zu verstehen – kaum zu hören. Er wollte erklären, was er seinen Kollegen von den anderen G20-Staaten im südkoreanischen Pusan alles mitgeben wolle, er sprach über den Wert solider Staatsfinanzen und den Segen niedriger Schuldenstände. Aber seine Botschaft kam kaum an, akustisch nicht, und inhaltlich drang er auch kaum durch.  

Denn kaum war die erste Finanzkrise eingedämmt, loderte in jenen Sommerwochen in Europa bereits die nächste, diesmal war es eine Vertrauenskrise in den Zusammenhalt des Euro: Griechenland war gerade mit Ach und Krach und nach langer Weigerung Deutschlands mit insgesamt 110 Mrd. Euro vor der Staatspleite bewahrt worden Mit Spanien, Portugal und Irland standen aber bereits die nächsten Pleitekandidaten vor der Tür. Die USA drängten auf eine beherzte, große und europäische Lösung, Banken und Finanzmärkte ebenso, auch der Internationale Währungsfonds in Washington. Dutzende Fragen prasselten in jener knappen Stunde im Flieger auf Schäuble ein: Warum sich Deutschland weigere, gemeinsam mit anderen Euro-Staaten für Kredite zu haften? Was denn eine harte Sparpolitik in Griechenland bringen solle? Wie er denn nun die Probleme in Spanien, Irland und Portugal lösen wolle? Aber Schäuble saß nur da, schüttelte den Kopf und wurde immer schmallippiger.  

Schäuble war damals schon gezeichnet von jenen hartnäckigen und schmerzhaft entzündeten Wundstellen, die ihn wenige Monate später fast an den Rand des Rücktritts brachten – in diesem Schicksalsjahr Europas, das auch ein bisschen Schäubles eigenes Schicksalsjahr werden sollte. Acht Jahre blieb Schäuble schließlich Bundesfinanzminister, gerade mal acht Jahre in einer 50-jährigen Politikerkarriere, die schon da wirklich übervoll war an historischen Ereignissen und Ämtern. Doch diese acht Jahre als Finanzminister prägen Deutschland und Europa noch heute – und sie nahmen damals, im Frühjahr 2010, ihren Anfang.   

Zwei Ereignisse sind entscheidend für Schäubles Amtszeit: Die Eurokrise 2010 bis 2015, und die Konsolidierung der deutschen Staatsfinanzen. Zum Abschied aus dem Finanzministerium Ende 2016 stellten sich seine Mitarbeiter ganz in schwarz gekleidet auf dem Hof des Ministeriums auf und formten eine schwarze Null – Schäuble, der Mann der schwarzen Null, ja keine neuen Schulden, das war sein Vermächtnis. So stimmen es auch die meisten Nachrufe an, die unmittelbar nach der Nachricht von Schäubles Tod erschienen. 

Schäuble hielt wenig von Ökonomen

Einen anderen Ton schlug hingegen der in den USA lehrende deutsche Ökonom Rüdiger Bachmann an. Er würdigte wie viele Schäubles „große Verdienste“, gab auf dem Kurznachrichtendienst X aber auch zu bedenken: „Zur Wahrheit gehört auch, dass er von Finanz- und Wirtschaftspolitik wenig verstand und mit ihr in Südeuropa großes und unnötiges Leid verursachte.“ Damit fasste Bachmann Schäubles Bilanz als Finanzminister wahrscheinlich etwas treffender zusammen.  

Schon in Südkorea machte der Jurist Schäuble kein großes Geheimnis daraus, was er von Ökonomen halte: herzlich wenig. Der damalige US-Finanzminister Timothy Geithner etwa, ein Ex-Banker und in jeder Hinsicht das Gegenteil von Schäuble, etwa drängte bei dem G20-Treffen Deutschland dazu, den Weg zu einer Schuldenunion in Europa freizumachen – Schäuble strafte ihn mit Nichtbeachtung. Die Logiken von Märkten, das Spiel von Angebot, Nachfrage, Preisen und Anreizen war ihm zwar nicht fremd (er hatte ja neben seinem Jurastudium auch ein paar Kurse in VWL belegt), aber es interessierte ihn auch nicht besonders. Der Staat, davon war Schäuble zutiefst überzeugt, hatte so gut es geht Regeln zu setzen und diese verlässlich zu kommunizieren. Um den Rest sollten sich andere kümmern.  

Akutes Krisenmanagement war ihm dagegen schon aus Prinzip suspekt, weil es eben meistens bedeutet, dass Prinzipien in der Krise wenig Chancen haben. In einer Rede im Jahr 2017 verteidigte er seine Politik mit den Worten: „Ganz entscheidend (ist) das Vertrauen in die Verlässlichkeit und Nachhaltigkeit von Politik, auch in die Finanzpolitik und in die Nachhaltigkeit öffentlicher Haushalte und in die sozialen Sicherungssysteme. Deswegen ist solide Finanzpolitik eine Voraussetzung für wirtschaftliches Wachstum und dafür, dass es den Menschen besser geht.“  

Meister der Schuldenbremse

Der CDU-Politiker folgte damit vor allem den Prinzipien der deutschen Spezialdisziplin in der Ökonomie, der Ordnungspolitik. Der Staat sollte streng und sparsam sein. Und diese Linie zog Schäuble lange durch, in Europa sogar mehr noch als zuhause. Zwar akzeptierte er, dass Kanzlerin Angela Merkel in der Eurokrise immer wieder Kompromisse schmiedete und Institutionen wie den Europäischen Währungsfonds ESM schuf, der fortan Hilfsgelder an klamme Eurostaaten ausreichte.  

Aber in den Brüsseler Verhandlungsrunden der Finanzminister war Schäuble der harte Hund, vor dem sich viele andere Ministerkollegen fürchteten. Zuhause in Deutschland war Schäuble zwar nicht der Erfinder der Schuldenbremse, aber doch ihr Meister. Im Laufe seiner Amtszeit reduzierte er das laufende Staatsdefizit nicht nur auf die im Grundgesetz geforderten maximal 0,35 Prozent der deutschen Wirtschaftsleistung BIP, sondern tatsächlich auf Null. Dass er dafür allerdings gar nicht viel tun musste, sondern er einfach nur Glück hatte, weil die Wirtschaft und damit die Steuereinnahmen in jenen Jahren gut liefen, war sein kleines schmutziges Geheimnis. Gleichwohl wurde er zum Gesicht der „schwarzen Null“ und sichtlich stolz darauf, als einziger Finanzminister gleich mehrere Jahre hintereinander ganz ohne neue Schulden ausgekommen zu sein.  

Die Folgen allerdings werden Deutschland noch auf Jahrzehnte beschäftigen: Die ausgezehrte öffentliche Verwaltung, die fehlende Digitalisierung, die marode Infrastruktur von Autobahnbrücken über Kanalschleusen bis zur Bahn: All das ist nicht allein auf Schäubles „schwarze Null“ zurückzuführen, aber doch auf eine Grundhaltung, nach der der Staat möglichst schlank zu sein hat. Die Idee, dass ein Staat seine Infrastruktur erhalten, erneuern und ausbauen sollte, um die Grundlage künftigen Wirtschaftswachstums zu erhalten, kommt in dieser Philosophie strukturell zu kurz. „Schäubles Null hat null Sinn“, kommentierte schon im Jahr 2016 der gewerkschaftsnahe Ökonom Sebastian Dullien. „Ein Unternehmenschef, der bei niedrigen Schulden und Zinsen hoch rentable Investitionen ablehnt, würde aus dem Amt gejagt.“  Dennoch setzte sich Schäubles Haltung auch unter seinem Nachfolger Olaf Scholz (SPD) durch – zumindest bis zur Pandemie Anfang 2020.  

Die Auseinandersetzung über Sparen versus Schulden kulminierte in Schäubles Auseinandersetzung mit seinem griechischen Amtskollegen Yanis Varoufakis im ersten Halbjahr 2015. Schäuble trieb das Duell mit Varoufakis so weit auf die Spitze, dass Griechenland tatsächlich kurz vor dem Ausstieg aus der Eurozone stand. Im Rückblick hatten vielleicht beide Politiker einen Punkt: Natürlich konnte Varoufakis, der sich gern einer aggressiven antikapitalistischen Rhetorik bedient, nicht erwarten, dass sein Amtskollege aus Berlin deutsche Steuerzahler heranziehen würde zur Deckung griechischer Staatsschulden. Dass Schäuble auf die Prinzipien der Währungsunion pochte, die ein gegenseitiges Herauspauken der Staaten aus Schuldenproblemen verbot, stärkte möglicherweise sogar langfristig die Glaubwürdigkeit der Euro-Zone und damit die Gemeinschaftswährung. Gleichwohl sorgte Schäubles harte Haltung nicht nur für viel soziales Leid in Griechenland, sondern sie beförderte auch die politische Radikalisierung insbesondere in Südeuropa.  

Schäuble selbst sagte später dazu: „Solange die Entscheidungen für Wirtschafts-, Finanz-, Sozial- und Arbeitsmarktpolitik in den Mitgliedstaaten getroffen werden – das kann man ändern, wenn man die Mehrheit dafür hat; diese haben wir aber derzeit nicht –, müssen die Mitgliedstaaten auch die Verantwortung für die Folgen ihrer Entscheidungen tragen. Sonst treffen sie die falschen Entscheidungen. Das ist kein Mangel an Solidarität, sondern die Voraussetzung dafür, dass wir in Europa Solidarität leisten.“  

Letztlich waren es weder Schäuble noch Merkel oder die EU-Kommission in Brüssel, die den Ausweg aus der Eurokrise fanden. Sondern der damalige EZB-Präsident Mario Draghi, der mit einer umfassenden Bestandsgarantie für den Euro („What ever it takes“) die Eurozone rettete. Über die folgenden Niedrigzinsen dank Draghis Geldpolitik konnte Schäuble noch leichter seine Bundeshaushalte ohne neue Schulden vorlegen.  

Wolfgang Schäuble und der frühere griechische Finanzminister Yanis Varoufakis führten harte Debatten um den Sparkurs in Griechenland während der Eurokrise
Wolfgang Schäuble und der frühere griechische Finanzminister Yanis Varoufakis führten harte Debatten um den Sparkurs in Griechenland während der Eurokrise
© Zoonar / IMAGO

Schaut man Schäubles Rolle als Finanzpolitiker zurück, so scheint es, als habe das Bundesverfassungsgericht mit seinem Urteil zur Schuldenbremse vom 15. November 2023 Schäubles politisches Vermächtnis festgeschrieben. Das höchste deutsche Gericht verdonnerte die Politik dazu, die von ihm so mustergültig eingehaltene Schuldenbremse auch weiter zu beachten.  

Doch während seine CDU-Parteifreunde triumphierten, schlug Schäuble nach dem Urteil sehr zurückhaltende Töne an: Das Urteil binde auch künftige Bundesregierungen, auch solche, die von CDU und CSU wieder angeführt würden, mahnte Schäuble bei einem seiner letzten Auftritte vor der Unionsfraktion im Bundestag. Dies verpflichte schon jetzt in der Opposition, etwa, wenn es darum gehe, glaubwürdig Alternativen zur Regierungspolitik zu formulieren. Alles, was die Union vorschlage oder fordere, müsse realistisch und finanzierbar sein, berichtete Schäuble kurz darauf auch im Gespräch mit dem „Spiegel“. Man kann das auch so lesen: Wer Geld für Sozialausgaben oder die Bewältigung des Klimawandels ausgeben will, muss anderswo einsparen oder die Steuern erhöhen – oder eben beides tun. Dafür habe er viel Applaus bekommen, erzählte er – dennoch hätten die ersten Unionskollegen gleich danach Steuererhöhungen wieder ausgeschlossen, schob Schäuble mit dem für ihn üblichen Sarkasmus hinterher.  

So wirken heute zwei weitere Sätze aus dem „Spiegel-Gespräch“ wie das eigentliche Vermächtnis des (Finanz-)Politikers Wolfgang Schäuble: „Sie gewinnen mehr Zustimmung, wenn Sie den Leuten nicht nach dem Munde reden“, habe er seinen Unionskollegen noch mit auf den Weg gegeben. „Nur wenn Sie den Menschen widersprechen, glauben sie Ihnen.“  

Gut möglich, dass solche Ratschläge Schäubles künftig am meisten fehlen werden – auch in seiner eigenen Partei.  

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