Biografien
In den 60ern von Gelterkinden nach London – der zweite Band «Lebensgeschichten» kommt

Dank dem Projekt «Lebensgeschichten» schreiben Freiwillige das Leben älterer Menschen für die Nachwelt auf. Käthy Plattner gehört zu den acht Menschen, deren Lebensgeschichte das Projekt beleuchtet.

Jocelyn Daloz
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Alltagshelden
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Zu Besuch bei der Familie Street vor fünf Jahren. Käthy Plattner hält lange über ihren Gastaufenthalt hinaus den Kontakt zur Familie. In den 14 Monaten ist eine innige Freundschaft zur Familie entstanden.
In den ersten Wochen bei der Familie Street. Käthy Plattner reitet auf dem Pony „Blaze“. Daneben Anne und Jennie, zwei Töchter der Streets und der Sohn von Bekannten.
Aus dem Buch „Wie ein dynamischer Pionier aus einem Schweizer Berg eine Pneumarke macht“ zum 50-jährigen Jubiläum der Firma „Maloya". Käthy Plattner (in der Mitte) steht Modell im Prüflabor der Pneufabrik. Eigentlich arbeitet sie im technischen Büro der Produktion als Disponentin.

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Zur Verfügung gestellt

Als Käthy Plattner am 23. Januar 1962 in Calais den Nachtzug aus Basel verlässt, ist sie noch nie so weit von Gelterkinden weggewesen. Sie ist aber noch nicht angekommen: Mit einer Fähre überquert sie den Ärmelkanal, fährt mit dem Zug nach London und weiter nach Chelmsford, im Bezirk Essex. Dort wird sie von der Familie Street begrüsst, die sie für einen Sprachaufenthalt willkommen heisst.

Die nächsten vierzehn Monate sind für sie lebensbestimmend. Als Au-pair erlebt sie den Alltag der englischen Familie hautnah, lernt Englisch, übersteht den Jahrhundertwinter von 1962/1963. Zu Hause in der Schweiz frieren Bodensee und Zürichsee komplett ein. «Diese Reise hat mein Leben total verändert» erinnert sich die 82-Jährige in ihrer hübsch eingerichteten Wohnung im Gelterkinder Dorfzentrum. Ihre Englandreise und ihr ganzes Leben vertraute sie dem freiwilligen Biografen Marco Sartori im Rahmen des Projektes «Lebensgeschichten» an. Für den 29-jährigen Anlagen- und Apparatebauer war das eine spannende Gelegenheit, seine Leidenschaft für das Schreiben auszuleben.

Initiantin des Projektes ist Karin Viscardi aus Gelterkinden. «Ich treffe immer wieder Menschen, die spezielle Geschichten zu erzählen haben. Jemand muss sie aufschreiben», erklärt sie. Das Projekt findet zum zweiten Mal statt. Der diesjährige Sammelband wird am kommenden Sonntag in der Gelterkinder Bibliothek vorgestellt.

Sie erzählt von sich, aber beide lernen voneinander

Käthy Plattner hat Marco Sartori fast alles erzählt. Auch Sachen, die er nicht aufschrieb. «Einige Dinge müssen nicht bleiben», meint sie. Aber sie erzählte ihm von ihrem zweiten Aufenthalt als Au-pair in Frankreich, von ihrer dreissigjährigen Karriere beim Statistischen Amt in Bern und von ihrer Tochter. Dabei kannten sich Plattner und Sartori zuvor nicht. «Ich laufe täglich an ihrem Haus vorbei. Aber ich hätte niemals vermutet, dass hinter diesen Mauern eine besondere Geschichte lauert», meint Marco Sartori. Das Gespräch der beiden am Esstisch von Käthy Plattner wirkt vertraut. Für Karin Viscardi ist es das Schöne am Projekt: «Es entstehen Begegnungen. Am schönsten finde ich, wenn Enkel die Geschichte ihrer Grosseltern aufschreiben.»

Käthy Plattner ist für den kommenden Sonntag schon ganz aufgeregt. Sie wird es Marco Sartori überlassen, ihre Erlebnisse aus England zu erzählen. War es doch eine besonders emotionale Reise. Marco Sartori zitiert, wie sie sich an den herzzerreissenden Abschied in Dover erinnert: «Sie winkten mir, bis das Schiff aus dem Hafen fuhr und wir uns nicht mehr sehen konnten. Ich hatte Tränen in den Augen bis zum Gehtnichtmehr. Ich konnte nur noch heulen. Und ich könnte jetzt noch, wenn ich daran zurückdenke.»